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11.
Reigen
box 17/6
Der Reigen.
Kompetenzenanarchie.
Aus einer Künstlerlaune ist mit einem Male eine literarische
und jetzt sogar eine politische Affäre geworden. Zwei Jahrzehnte
lang hat Schnitzlers „Reigen“ in den Bibliotheken literarischer
Feinschmecker geruht, ganz oben, wo Kinder bestimmt nicht hinauf¬
reichen. Jetzt wurde er in einem Theater aufgeführt, das sich
eine besondere Spezialität zu eigen gemacht hat. In die
Kammerspiele werden im allgemeinen keine Pensionate hin¬
geführt und ein Irrium innerhalb ihres Repertoires ist
unmöglich Das Burgtheater oder das Dentiche Volistheater
haben neben ihren künstlerischen auch sittliche Pflichten. Wer in
die Kammerspiele geht, weiß, daß ihn dort zumindest Erörierungen
erwarten, die er vor Halbwüchsigen lieber nicht führen
wird. Aber dies alles ist schon vor der Premiere des
„Reigen“ besprochen worden undzeigentlich erledigt. Die Debatte
über den „Reigen“ und seine Aufführung ist aber nunnganz
nötigerweise wieder aktuell geworden, weil der Bundesminister des
Innern die Vorstellungen verboten hat. Hier ist das Gebiet, auf
dem man die Debatte zu führen hat, viel enger und
viel
flacher. Jetzt kommt nicht mehr in Betracht,
ob
der
„Reigen“ für eine Aufführung geeignet
ist
oder
verletzend wirkt, sondern ob ein Minister,
der
Gesetz hüten soll, durch irgendwelche Argumente sich dazu
verleiten lassen darf, eben dieses Gesetz zu übergehen. Und da muß
man sagen, daß die Gesetzesverletzung des Bundesministers des
Innern ohne weiters deutlich ist. Die kompetente Behörde, in diesem
Falle der Bürgermeister von Wien, hat den „Reigen“ erlaubt.
Ob er besser gelan oder Recht gehabt hätte, ihn zu verbieten,
kommt jetzt gar nicht mehr in Betracht. Er hat ihn erlaubt und
der Bundesminister des Innern hat über den Kopf des Bürger¬
meisters hinweg die Vorstellung zu verbieten gesucht. Dabei beruft
er sich auf ein Gesetz, das nicht bloß das auch für Gesetze ehr¬
würdige Alter von siebzig Jahren hat, sondern auch ausdrücklich
dem Ministerium nur das Ueberprüfungsrecht im Falle eines
Aufführungsverbotes vorschreibt Dieser alten Bestimmung steht die
Bundesverfassung gegenüber, die für alle nicht ausdrücklich der
Kompetenz des Bundes zugewiesenen Angelegenheiten die Kompetenz der
Länder anerkennt. Wenn jemand sehr boshaft und ein Ideenfanatiker
wäre, so könnte er über diesen Konflikt, der zwischen Bund und Land
entstanden ist — denn nach unserer gegenwärtigen Verfassung ist
Wien ein Land und hat alle Rechte eines solchen — Freude
empfinden. Denn je#es Mittel, dieses spitzfindige, modernes
Empfinden und wirtschaftliche Notwendigkeiten übersehende Ver¬
fassung ad absurdum zu führen, könnte einem solchen Fananiker
der zeatralistischen Verwaltung eines Sechsmillionenvolkes nur
recht sein. Es würe im Grunde ganz gut, wenn die Urheber umd
Befürworter dieser unglücklichen Joee, das so klein gewordene
Oesterreich in schier unabhängige Stoaten zu zerschsagen, einmal
selbst verspürer, was sie damit engestellt hab n Aber gerade die
Leute, die sich für Verfassungsfragen intéressieren, stellen eine
Idee immer höher, als ihre Schadenfreude, und sie be¬
dauern es, daß in einer Epoche wilder Anarchie das
bestehende Grundgesetz unseres staatlichen Lebens
von
denen mißachtet wird, die alle Ursache hätten, es
mit
besonderer Fütsorge zu umgeben Hat gerade die Regierung des
Herrn Dr. Mayr sich einmal für die Selbständigkeit der Lände¬
entschieden, so muß sie diese auch respektieren, wo immer sie sich
zeigt. In dem ihr im Parteisinne näherstehenden Vorarlbera
oder im andersgesinnten Wien. Anläßlich irgendeiner Kulturfrage
etwa oder einer ihr kulturwidrig erscheinenden Theaterangelegenheit.
Gerade vor einigen Tagen hat der Bundespräsident Hainisch di¬
Stützung der Autorität als eine Notwendigkeit der staatlichen
Faktoren bezeichnet. Aber wie kann man es tieferstehenden
Kompetenzen verübeln, wenn sie alle Begriffe einer Staats¬
autorität über den Haufen werfen, wo doch die Zentral¬
stelle selbst hier das gleiche tut. Wir wissen ja, wit
es heute in Oesierreich zugeht. Der Balkan ist in Europa
vorgedrungen und wir selbst find nicht bloß im staatlichen
und wirtschaftlichen Sinne balkanisiert worden. Eine trübe Welle
reißt alles mit, was dem Staate einen Halt geben will und jetzt
muß man sehen, daß eines der wichtigsten Mitglieder des Bundes¬
ministeriums in der Welle mitgeht, wenn es seinen eigenen
Parteizwecken oder denen seiner Majorität paßt. Eine Gesetzes¬