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11.
Reigen
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Innenminister Dr. Glanz betont, daß sich nach der
Aufführung des Stückes, die weitüberwiegende Mehrzahl
der öffentlichen Meinung dahin ausspreche, daß die Auf¬
führung ihrem Gesamteindruck nach eine arge Verletzung
der öffentlichen Sittlichkeit bedeute. (Lebhafter Beifall bei
den Christlichsozialen, andauernde stürmische Zwischenrufe
der Sozialdemokraten und Gegenrufe der christlichsozialen
Abgeordneten.) Aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit
untersagte deshalb das Ministerium die weitere Auffüh¬
rung. (Zwischenrufe, Lärm.) Es handelt sich um ein Stück,
dessen Leitmotiv eine Sache bildet, die bei allen Völkern,
selbst solchen, die sich auf einer niederen Stufe der Zivili¬
sation befinden, mit einer gewissen Diskretion umgeben
wird; die deutsche Kultur in Oesterreich wird gewiß keinen
Schaden erleiden, wenn die Schaustellung solcher Vorgänge
auf offener Bühne unterbleibt. (Skürmischer Beifall bei
den Christlichsozialen, heftige Gegenrufe bei den Sozial¬
demokraten. Es handelt sich um eine Verfassungsfrage.
Formal hat der Minister nach den geltenden Kompetenz¬
bestimmungen das Recht und die Pflicht zur Aufsicht und
zum Verbote der Aufführungen. Was die gegen ihn per¬
önlich gerichteten Bemerkungen des Vorredners betreffe,
überlasse er das Urteil über sein Wirken getrost jedem an¬
ständig denkenden Menschen. (Lebhafter Beifall u. Hände¬
klatschen bei den Christlichsozialen, stürmischer Widerspruch,
Abzugrufe bei den Sozialdemokraten. Mehrere Sozial¬
dem##aten dringen mit stürmsichen Rufen gegen den Mi=z
„Salzburger Chronik“
nistertisch vor und schlagen heftig auf denselben. Lang an¬
haltender Lärm und großer Tumult. Vor der Minister¬
bank kommt es zu stürmischen Auseinandersetzungen. Die
Ordner bemühen sich, die heftig aneinander geratenen Ab¬
geordneten zu trennen.)
Nachdem sich der Lärm einigermaßen gelegt hat, spricht
Präsident Weiskirchner sein tiefstes Bedauern über
diesen unqualifizierbaren Vorgang aus und erteilt eine
Reihe von Ordnungsrufen. Der christlichsoziale Abgeordnete
Volker billigt den Standpunkt des Ministers und ver¬
wies darauf, daß auch in München und Berlin der „Rei¬
gen“ verboten wurde. Abg. Seitz nahm in scharfer Weise
Stellung gegen den Minister des Innern und kündigte den
entschiedenen Widerstand der Arbeiterschaft gegen jede
Verletzung der Verfassungsrechte Wiens an. (Lebhafter
Beifall bei den Sozialdemokraten, andauernde Zwischen¬
rufe bei den Christlichsozialen.) Abg. Dr. Bauer ver¬
langt den Ordnungsruf auch für den Minister, der mit
einer deutlichen Spitze gegenüber der Kritik der sozialdemo¬
kratischen Partei gesagt habe, er überlasse das Urteil dar¬
über allen anständigen Menschen. Abg. Seitz unterstützt
dieses Verlangen, das jedoch vom Vorsitzenden Präsidenten
Dr. Dinghofer unter lebhaften Zwischenrufen abgelehnt
wird.
Die nächste Sitzung wird im schriftlichen Wege bekannt¬
gegeben.
Der „Reigen“ im Landtage.
KB. Wien, 11. Februar. In der heutigen Sitzung des
Landtages kam es zu stürmischen Szenen zwischen Sozial¬
demokraten und Christlichsozialen, wobei letztere mit den
Pultdeckeln Lärm schlugen. Landeshauptmann und Bür¬
germeister Reumann erklärte, nichts werde ihn dazu
zwingen, die Aufführung des „Reigens“ zu verbieten. Er
lasse die Verfassung der Stadt Wien nicht schänden, er
werde von seinem Rechte nicht abweichen. Schließlich wurde
ein Antrag Kunschak, den Sachverhalt zu prüfen und dem
Gemeinderat hierüber Bericht zu erstatten, abgelehnt.
Die heutige Aufführung des „Reigen“ in den Kammer¬
svielen blieb ohne jede Störung.

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