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11. Reigen
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Die Aufführung von Schnißsers
eine „nrtliche
„Reigen“
Cat“
Nach dem Urteil der Sechsten Zivilkammer des
Berliner Landgerichtes III.
Man wird sich erinnern, daß die von Frau Eysoldt
und Herrn Sladek beabsichtigte erste Aufführung von Artur
Schnitzlers „Reigen“ im Kleinen Schauspielhause zu
Berlin auf Antrag des Hochschukleiters Professors Franz
Schreker von der Berliner Polizei aus Sittlichkeitsgründen
verboten und Frau Eysoldt und Herr Sladek mit hohen
Strafen bedroht wurden. Gegen die Verfügung avvellierten
die beiden Künstler an die Sechste Zivilkammer des Berliner
Landgerichtes III als höhere Instanz und erzielten die
bedingungslose Freigabe der Aufführung Jetzt liegt der
Wortlaut der landgerichtlichen Entscheidung vor, die eine
geradezu glänzende Rechtfertigung Schnitzlers bedeutet
Das inhaltlich und formell gleich bedeutsame Urteil lautet:
„Die Hochschule für Musik hat den Antragsgegnern ihren
Theatersaal, jetzt Kleines Schauspielhaus genannt, für schau¬
spielerische Zwecke vermietet. Der Vereinbarung gemäß, dürfen
nur solche Stücke aufgeführt werden, die in sittlicher, religiöser,
politischer oder künstlerischer Hinsicht keinen Anstoß erregen
Auf Grund dieser Bestimmung ist durch einstweilig
von
Verfügung die Aufführung des Stückes „Reigen“
Artur Schnitzler verboten. Dennoch haben die Antragsgegner
dieses Stück seither täglich oder fast täglich gegeben. Sie be¬
antragten Aufhebung dieser einstweiligen Verfügung.
Schnitzlers Buch besteht aus zehn Bildern. In jedem Bilde
treten nur zwei Personen auf, die je zweimal und jedesmal
mit einer neu auftretenden Person die geschlechtliche Vereinigung
vollziehen, außer im letzten Bild, wo diese Vereinigung
unmittelbar zuvor stattgesunden hat. So tritt jede Person in
zwei aufeinanderfolgenden Bildern auf; nur die Dirne, den
Reigen schließend, steht im ersten und letzten Bild. Das Bach
bietet eine Fülle von Geist und von Feinheit. Kühne, knapge
Sätze zergliedern alle Tiefen der geistigen Verfassung und des
Empfindungslebens. Teils derb, selbst roh, platt und gemein,
teils zart und empfindsam, teils launig, neckisch, keck, prickelnd,
lüstern, ausgelassen und verführerisch in der Ausmalung, erfährt
der immer sich gleichbleibende Gegenstand zehn untereinander ver¬
chiedenste Abwandlungen. Dieser Gegenstand ist die im Mittelpunkt
jedes Zwiegespräches stehende körperliche Vereinigung. Weiterhin be¬
findet sich im vierten, fünften, achten, neunten, zehnten Bild der
weibliche Teil im Bett. Im zweiten, dritten, sechsten Bild ist ein mehr
oder weniger erhebliches Sträuben des weiblichen Teiles zu überwinden.
Im ersten, achten, neunten Bild dagegen drängt der weibliche
Teil, und zwar im neunten Bild mit ungemein heftiger Leiden¬
schaftlichkeit. Im vierten Bild wird nach der ersten Vereinigung
das Ausbleiben der Geschlechtslust des Mannes ausgiebig er¬
örtert. Dem ehelichen Geschlechtsverkehr des fünsten Bildes geht
der Ehebruch des vierten Bildes anscheinend nur um wenige
Stunden vorauf. Dazu wird im fünften Bild der Ehebruch an
sich ausführlich besprochen. Aus diesen Erwägungen erweckte das
Buch den Eindruck, daß seine Aufführung das sittliche Empfinden
erheblich verletzen und dadurch berechtigten Anstoß erregen müsse.
Zwei von dem Gericht besichtigte Aufführungen erzielten
folgenden Eindruck. Alles, was frech, schlüpfrig oder zotig
wirken könnte, wird vermieden. Selbst die Aeußerungen gewöhn¬
lichster Geilheit im ersten Bilde wurden so abgetönt, daß von
einer Reizung der Sinnlichkeit des Zuschauers keine Rede
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schichten auf dem Gebiete des Geschlechtslebens. Auf diesen
Erfolg ist jede Einzelheit berechnet. Dieser Erfolg wird bei jedem
reifen, gebildeten Zuschauer auch erzielt. Vor allem beruht
diese Wirkung auf der einsten Hingabe der Antragsgegner
an ihre Aufgabe und auf ihrer überlegenen Kenntnis der Wirkung
der szenischen Darstellung. Auch mag die Benutzung des von
Max Reinhardt verfaßten Regiebuches ihnen wertvolle Dienste
geleistet haben. In der zweiten vom Gericht besichtigten Auf¬
führung verloren im vierten Bilde der weibliche Teil, im neunten
Bilde beide Teile die Haltung, indem sie gerade an Stellen von
entscheidender Bedeutung ohne jeden Zusammenhang mit ihrer
Rolle in den Zuschauerraum hineinlachten. Es ist kennzeichnend
für den hohen Stand der Aufführung, daß durch diese an sich
ehr bedauerlichen Entgleisungen der Gesamtwirkung kein Abbruch
geschah. So bedeutet diese Aufführung eine sittliche Tat.
Es besteht zwar die Gefahr, daß der „Reigen“ auf unreise
oder unzureichend gebildete oder schlecht erzogene oder sittlich ver¬
dorbene Menschen einen Einfluß dahin ausübt, da; sie sich auf
die hier gegeißelte Auffassung von der Bedeutung des Geschlechts¬
iebens einstellen. Doch kann jedes Kunstwerk, welches eine An¬
eutung des Geschlechtlichen auch nur zuläßt, auf diese mi߬
bräuchliche Weise ausgenommen werden. Ferner wird die
Meinung vertreten, die Erörterung solcher Dinge auf der
Bühne sei an sich in sittticher Hinsicht anstößig. Diese
Meinung ist unzutreffend. Vielmehr kann es für die Auf¬
haltung des sittlichen Verfalls nur förderlich sein, diese Dinge so
zurückhalten und sachlich und zugleich so deutlich und rücksichtslos
anfzudecken und zur Erörterung zu stellen, wie es hier geschieht.
Der zugrunde liegende Mietvertrag ist zwischen dem damaligen
Direktor der Hochschule für Musik, Kreischmar, und der
Frau Eysoldt geschlossen. Die führende Stellung dieser
Persönlichkeiten im Bereich der Kunst berechtigt zu dem
Schluß, daß nach ihrem Willen durch die erwähnte Bestimmung
des Mietvertrages als in sittlicher Hinsicht anstößig nur
das gelten sollte, was ein gebildeter, edler Mensch ablehnt.
Hienach kann der Antragsteller eine besondere Rücksichtnahme
auf die teilweise im kindlichen Alter stehenden Schüler der Hoch¬
schule für Musik nicht beanspruchen. So weit ein Schaden für
sie zu befürchten steht, mag der Zutritt ihnen verboten werden.
Aus diesen Gründen hat das Gericht die Ueberzeugung gewonnen,
daß durch die Aufführung von Schnitzlers „Reigen“ in sittlicher
Beziehung bei dem geistig und moralisch gesunden Menschen kein
Anstoß erregt wird, somit eine Verletzung des zwischen den
Parteien bestehenden Mietvertrages nicht vorliegt. Daher muß
die einstweilige Verfügung aufgehoben werden.