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Reigen
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Darstellung hier nicht ins Unschickliche oder ins Tierischtriebhafte entgleiten zu lassen,
wird durch gelungene Zurückhaltung und Zügelung alles Gemeinen vorbildlich
gelöst. Im vierten Bilde geht die Erörterung des Ausbleibens der Geschlechtslust
mit aller Sachlichkeit und Nüchternheit vor sich. Die Erörterung des Ehebruchs im
fünften Bilde erscheint notwendig, um das seelische Erleben der jungen Frau hin¬
sichtlich des Ehebruchs, ihre Abenteuerlust, ihre Begehrlichkeit, ihre innere Zwie¬
spältigkeit und Unruhe ins rechte Licht zu rücken.
Die körperliche Vereinigung sollte stets lediglich der natürliche Ausfluß
innigster seelischer Gemeinschaft sein. Ein Verfall dieser Auffassung hat leider
in weitesten Schichten Platz gegriffen. Diesen Kreisen wird durch diese Aufführung
die ganze Jämmerlichkeit des in ihrer Mitte mehr und mehr einreißenden sittlichen
Tiefstandes nachdrücklichst vorgeführt. Es wird gezeigt, wie gedankenlos und
würdelos durch einen unedlen und unvollkommenen Genuß des Augenblicks zu
Boden getreten wird, was der Menschheit das Heiligste sein sollte. Die Wieder¬
holung der nämlichen Redewendung seitens der nämlichen Person bei zwei ver¬
schiedenartigen Anlässen und die Wiederkehr solcher Wendungen bei verschiedenen
Personen in ähnlicher Lage, kennzeichnen treffend jeden Mangel an Eigenart und
Selbstständigkeit, auf dem der geringe Persönlichkeitswert des Durchschnittsmenschen
unserer Zeit beruht. Diese Entwürdigung des Geschlechtsverkehrs zur Alltäglichkeit,
zur Laune, zum Leichtsinn, zum Abentener, dies Fehlen jeder großen, tiefen,
sittlich begründeten echten, edlen Leidenschaft wirken erschütternd, weil sie auf
richtiger Beobachtung beruhen.
Inmitten der einzelnen Bilder, wenn zur Andeutung der sich vollziehenden
Vereinigung der Vorhang auf wenige Sekunden sich schließt, und zwischen den
einzelnen Bildern ertönt eine Musik von Celesta und Cello oder Geige und Flöte.
Diese Musik lehnt sich an keine Kunstform an und ist dazu bestimmt, mit ihren
erotischen Phrasen die Stimmung festzuhalten, die in dem Augenblick herrscht, in
dem der Vorhang den Fortgang der Handlung verhüllen soll.
Die Wirkung der Aufführung soll nach der erklärten Absicht der Direktion
gipfeln in der Erzielung eines sittliche Ekels ver dem Diefstandder Haliung
weitester Bevölkerungsschichten auf dem Gebiete des Geschlechtslebens. Auf diesen
Erfolg ist jede Einzelheit berechnet. Dieser Erfolg wird bei jedem reifen,
gebildeten Zaschauer auch erzielt. Vor allem beruht diese Wirkung auf
der ernsten Hingabe der Direktion an ihre Aufgabe und auf ihrer überlegenen
Kenntnis der Wirkung der szenischen Darstellung.
So bedeutet diese Aufführung eine sittliche Tat.
Es besteht zwar die Gefahr, daß der Reigen auf unreife oder unzureichend
gebildete oder schlecht erzogene oder sittlich verdorbene Menschen einen Einfluß dahin
ausübt, daß sie sich auf die hier gegeißelte Auffassung von der Bedeutung des
Geschlechtslebens einstellen. Doch kann jedes Kunstwerk welches eine Andeutung
des geschlechtlichen auch nur zuläßt, auf diese mißbräuchliche Weise aufgenommen
werden. Ferner wird die Meinung vertreten, die Erörterung solcher Dinge auf
der Bühne sei an sich in sittlicher Hinsicht anstößig.
Diese Meinung ist unzutreffend.
Vielmehr kann es für die Aufhaltung des sittlichen Verfalles nur för¬
derlich sein, diese Dinge so zurückhaltend und sachlich und zugleich so deutlich und
rücksichtslos, aufzudecken und zur Erörterung zu stellen, wie es hier geschieht.
Aus diesen Gründen hat das Gericht die Ueberzengung gewonnen, daß
durch die Aufführung von Schnitzlers Reigen in sittlicher Beziehung
bei dem geistig und moralisch gesunden Menschen
kein Anstoß erregt wird.
Buchoruckerw Wilh. Joh. Rother Nachh, Bertin 6. 54.