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11.
Reigen
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Seite 4
Die Wahrheit
Nr. 7
Eingeschmissene Fensterscheiben, überfallene Straßen¬
Die deutschen Gerichte und die deutschen
passanten, verprügelte Tramwayfahrer, das waren die
Juden.
geistigen und sittlichen Abwehrmittel der vereinigten
Ein Berliner Gerichtsurteil zu Artur Schnitzlers „Reigen“.
Christlichsozialen am kritischen 13. März. Weil Herr
(Nachdruck nur bei Quellenangabe gestattet.)
Funder in Voraussicht der kommenden Dinge diese Taktik
Von Rechtsanwalt Dr. Ernst Emil Schweitzer, Berlin.
nicht für todsicher hält, heuchelt er noch eine andere Me¬
Die Stellung der deutschen Gerichte zu den jüdischen
thode und erklärt:
Probiemen dürfte auch außerhalb Deutschlands von In¬
„Wir müssen in diesem Sinne vor allem an nus
teresse sein. Insbesondere muß anerkannt werden, daß
ich
selbst arbeiten; zuviel Mammonismus, skeptische After¬
die deutschen Richter grundsätzlich stets bemüht haben, zu
philosophie und Sinnlichkeitskultus ist schon von jenseits
jüdischen Fragen durchaus objektiv Stellung zu nehmen.
in die Lebensbezirke des christlichen Volkes eingebrochen.
Der Antisemitismus vollends hat nicht Eingang in die
Es ist dankenswert, daß ein deutschnationaler Redner,
deutschen Rechtsfragen gefunden. In den Handelsprozessen,
Gattermayer, in der heutigen Debatte der Tagung gerade
in denen ich jüdische Parteien vertreten habe, ist mir kein
auf diese positive Seite des Problems, die Wieder¬
einziges Mal der Fall vorgekommen, daß auch nur im ent¬
verchristlichung unseres Lebens, hingewiesen
ferntesten der Verdacht aufgestiegen wäre, daß die religiöse
hat. Erst wenn unser Volkskörper von diesen ewigen
Zugehörigkeit der einen oder der anderen Partei auch nur
Lebenssäften neu gestärkt ist, wird er imstande sein, sich
indirekt einen Einfluß auf die Richtr ausgeübt hätte.
von der tödlichen Umklammerung fremder Veroerber frei
Wie mir ist es zweifellos der großen Masse der deut¬
zu machen.“
schen Rechtsanwälte ergangen. Daß selbstverständlich auch
Dank für dieses Bekenntnis. Wir erfahren von einem,
Ausnahmefälle hie und da vorkommen, soll nicht bestritten
der es wissen muß, daß die Christlichsozialen jener Laster
werden. Aber es gehört eben zu den äußersten Seltenheiten
voll sind, deren sie die Juden beschuldigen, und so ent¬
und wo sich wirklich ein Richter eine antisemitische Ent¬
christlicht sind, daß sie die Wiederverchristlichung suchen
gleisung zu Schulden kommen ließ, hat auf Beschwerde die
müssen. Nach alledem wird die Bemerkung am Platz sein,
Instizverwaltung stets eingegriffen.
der Antisemitismus ist keine Gesiunung,
Neuerdings hat nun ein Berliner Gericht ein Urteil
sondern ein Gewerbe, ob dessen Ausüber Eisen¬
gefällt, das für die österreichischen Juden vielleicht noch
mengen, Pfefferkorn, Stöcker, Ahlwardt, Horthn, Kunschak
interessanter sein dürfte als für ihre deutschen Bekenntnis¬
oder wie immer heißt. Es muß nur zur Hauptsache seinen.
genossen. Es handelt sich um die Aufführung des „Reigen“,
Mann nähren oder dessen Ehrgeiz befriedigen. d
der in Oesterreich weit mehr als in Deutschland Anlaß zu
ab. Alle Gäste, die soeben für ein Mittagmahl einige
hundert Kronen bezahlt hatten, eilten hinaus und fragten,
Seutleton Iae
wo alle Kollegen und Kolleginnen seien, indem sie dem
Judenmädchen Zweikronenscheine hinhielten.
Wie die Schnorrer streiken wollten!
Die abgehärmt aussehende junge Jüdin wehrte aber
Von Dr. A. H. L.
die abgegriffenen Papierstückchen entschieden ab und er¬
In einer großen Stadt kamen eines Tages alle
klärte auf alle eindringlichen Fragen bloß, sie sei auf
Schnorrer in der Wärmestube zusammen und erklärten ein¬
Streikposten.
mütig, die kleinen Papierscheine, die man nicht einmal
Und sofort rief es einer dem anderen straßauf, straßab
als Trinkgeld zu geben wagt, nicht mehr annehmen zu
zu: Die Schnorrer streiken!
wollen.
Warum auch nicht? Heute, wo Schulkinder streiken,
Da rief einer in der Versammlung: Streiken
wir!
die zu Hause Essen und Trinken und Wohnung ganz um¬
sonst bekommen und dafür nur den Eltern zu Liebe ein
Und alle, die Tauben und Blinden, die Stummen
bißchen lernen brauchen, können doch Schnorrer, die gar
und Lahmen, die Krummen und Totkranken, die Jungen
nichts haben, nicht einmal einen Gehalt von der Gemeinde,
und Alten, schrieen laut: Streikenwir!
mit mehr Recht streiken.
Im Nu war ein Streikkomitee gewählt, es flogen ein
paar Hunderter in den Streikfonds, Streikposten wurden
In der großen Wärmestubenhalle saßen sie nun alle
an alle Schnorrerstandplätze ausgesandt und eine Zeit der
beisammen, die alten und jungen Schnorrer; die sonst nur
Siesta, wie sie so manches Schnorrerherz schon lange im
mit zwei Krücken gingen, kamen heute ganz stolz und auf¬
Stillen herbeiwünschte, schien zu winken.
recht, denn der Streik schaltete alle Gebrechen aus. Heute
Am nächsten Tage fehlten bei allen Gasthäusern, bei
brauchte niemand Mitleid zu erregen, weil er nichts dafür
allen Synagogen, bei allen Hochzeiten und allen Leichen¬
bekommen wollte, und so hatte der Streik alle gesund
gemacht.
begängnissen der großen Stadt die Schnorrer; am Freitag
gingen keine Frauen mit Kindern von Geschäft zu Ge¬
Der sonst alte Blinde las in einem Winkel ganz laut
schäft und alles fragte erstaunt nach den fehlenden Ghetto¬
eine jüdische Zeitung vor und ein sonst taubstummes Ehe¬
gestalten.
paar saß daneben und hörte ihm zu.
Da tauchte an einer Straßenecke ein in -Lumpen ge¬
Am nächsten Sonntag fand die große Versammlung
hülltes Judenmädchen auf, hielt ringsum Ausschau und
aller Schnorrer der Stadt in der großen Wärmestube zur
ging eino Zeitlang bei einem großen Restaurant auf und
Bekanntgabe der Streikforderungen statt.