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11. Reigen
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Nr. 7
Die Wohrheit
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politischen Konflikten gegeben hat. In Berlin hatte sich das
scher Gemeinschaft sein. Ein Verfall dieser Auffassung hat
Gericht aber auch mit dem „Reigen“ zu beschäftigen, und
leider in weitesten Schichten Platz gegriffen. Diesen Kreisen
zwar aus Anlaß einer Zivilklage. Das Berliner Theater,
wird durch diese Aufführung die ganze Jämmerlichkeit des
in dem der „Reigen“ aufgeführt wird, ist nämlich nur unter
in ihrer Mitte mehr und mehr einreißenden Tiefstandes
der Bedingung verpachtet worden, daß sittlich anstößige
nachdrücklichst vorgeführt. Es wird gezeigt, wie gedankenlos
Stücke nicht zur Aufführung gelangen dürfen. Aus diesem
und würdelos durch einen unedlen und unvollkommenen
Grunde klagte die Verpächterin des Theaters (das übrigens
Genuß des Augenblicks zu Boden getreten wird, was der
dem preußischen Staate untersteht) gegen die Theater¬
Menschheit das Heiligste sein sollte. Die Wiederholung der
direktion auf Unterlassung der weiteren Aufführung. Das
nämlichen Redewendungen seitens der nämlichen Person
Gericht hat die Klage abgewiesen und sich in der Begrün¬
hat bei zwei verschiedenartigen Anlässen, und die Wieder¬
dung sehr eingehend über die künstlerische Bedeutung des
kehr bei solchen Wendungen bei verschiedenen Personen in
„Reigen“ geäußert. Das Gericht führt hiebei unter an¬
ähnlicher Lage kennzeichnen treffend jeden Mangel an
derem aus:
Eigenart und Selbständigkeit, auf dem der geringe Persön¬
lichkeitswert des Durchschnittsmenschen unserer Zeit ruht.
„Das Buch bietet eine Fülle von Geist und Feinheit.
Diese Entwürdigung des Geschlechtsverkehrs zur Alltäglich¬
Kühne, knappe Sätze zergliedern alle Tiefen der geistigen
keit, zur Laune, zum Leichtsinn, zum Abenteuer, dies Fehlen
Verfassung und des Empfindungslebens. Teils derb,
jeder großen, tiefen, sittlich begründeten, echten, edlen
selbst roh, glatt und gemein, teils zart und empfindsam,
Leidenschaft wirken erschütternd, weil sie auf richtiger Be¬
teils launig, neckisch, keck prickelnd, lüstern, ausgelassen und
obachtung beruhen.
verführerisch in der Ausmalung, erfährt der immer sich
Die Wirkung soll nach der erklärten Absicht der Direk¬
gleich bleibende Gegenstand zehn unter einander verschie¬
dene Abwandlungen.
tion gipfeln in der Erzielung eines sittlichen Ekels vor dem
Tiefstand der Haltung weitester Bevölkerungsschichten auf
Zwei von dem Gerichte besichtigte Aufführungen er¬
dem Gebiete des Geschlechtslebens. Auf diesen Erfolg ist
zielten folgenden Eindruck: Alles was frech, schlüpfrig oder
jede Einzelheit berechnet. Dieser Erfolg wird bei jedem
zotig wirken könnte, wird vermieden. Selbst die Aeußerun¬
reifen, gebildeten Zuschauer auch erzielt. Vor allem beruht
gen gewöhnlichster Geilheit im ersten Bilde wurden so ab¬
diese Wirkung auf der ernsten Hingabe der Direktion an
getönt, daß von einer Reizung der Sinnlichkeit des Zu¬
ihre Aufgabe und auf ihrer überlegenen Kenntnis der Wir¬
schauers keine Rede sein kann. Die körperliche Vereinigung
kung der szenischen Darstellung.
sollte stets lediglich der natürliche Ausfluß innigster seeli¬
So bedeutet diese Aufführung eine sittliche Tat.“
Der fähigste von allen, ein „lahmer, blinder Taub¬
Jetzt sprang eine Frau, die sonst nur gebückt mit
stummer“ der einstimmig zum Führer gewählt wurde, stieg
zwei Stöcken gehen konnte, auf einen Sessel und schrie in
auf einen Tisch und rief mit Stentorstimme:
den Saal:
„Brüder und Schwestern! Wir lassen uns nicht mehr
„Wißt ihr, was eine Zeche so eines neuen Reichen
mit einem Papierfetzen abspeisen, der weniger Wert hat
in der Früy, bitte, in der Früh, ausmacht? 250 Kronen!
als gar nichts. Unsere reich gewordenen Brüder und
(Lebhafte Rufe: Hört, hört!) Wißt ihr, was die Zeche
Schwestern haben jetzt alle Säcke voll mit Geld; mit wirk¬
dieser Leute zu Mittag ausmacht, die auf unsere Kosten
lichem, gutem ausländischem Geld. Sie handeln nicht
edel und hilfreich sind? Per Kopf 500 bis 600 Kronen!“
mehr bei Tag allein, sie handeln auch in der Nacht; sie
Der kleine Jossel mit der angeblich „ausgeschnittenen“
handeln nicht mehr im Geschäft, sie handeln auch auf der
Zunge bedeckte sich die aufgesprungenen Lippen.
Gasse, sie handeln im Kaffeehaus, sie handeln im Tempel,
„Und wißt ihr“, schrie das hochaufgerichtete Weib mit
sie handeln bei Tisch und sie handeln im Bett. Aber was
ausgebreiteten Armen weiter, „was diese noblen Schnorrer¬
haben wir davon? Ich frage euch alle, was euch so ein
ausbeuter bei Nacht machen? Da wird gegessen und ge¬
vollgefressener Händler gibt: Eine Krone und wenn's
trunken wie bei einer Hochzeit; da wird gezecht und ge¬
hoch geht, zwei Kronen, aber nicht einem, sondern fünf
von uns zum Verteilen!“
pielt, dann erst getanzt und getollt und gesungen und ge¬
sprungen und da fliegen die Tausender, jawohl, die Tau¬
Laute Pfuirufe erschollen, der sonst Einarmige
klatschte vor Freude in beide Hände.
ender und das alles auf unsere Kosten! Uns aber
geben diese Prasser zwei Kronen zum Verteilen!“
„Die reich gewordenen Brüder glauben, die können
auf unsere Kosten wohltätig sein und sich billig eine Stufe
Pfuil riefen hunderte ausgetrocknete Kehlen.
zum Himmel erkaufen,“ schrie der Taubstumme weiter.
„Was schreit ihr „Pfui“, rief da die Rednerin ent¬
rüstet
„Sie wollen in den Gan Eden kommen für einen
„ihr habt, Bravo zu schreien!“
Papierfetzen, der im Ausland auf Flaschen geklebt wird!
„Bravo“, schrien die Weiber, während sich einige
Wir nehmen ganz einfach diese Papierschnitzel nicht mehr
„Einarmige“ mit den „Armlosen“ zu balgen begannen.
an, wir wollen nur ausländische Valuta oder Wertsachen
Da sprang plötzlich ein sonst als „Lahmer“ bekannter
oder Lebensmittel!“
Bettler behend auf einen Tisch und rief in den dunstigen
Die Weiber klaschten in die Hände und sprangen vor
Jubel. Ja, Lebensmittel, das ist die Hauptsache, denn
„Beim Hotel Jerusalem stehen ungarische Juden und
heute kostet ein Brot im Schleichhandel schon 80 Kronen
teilen Zehner aus!
und das verdient ein Schnorrer nicht jeden Tag.
(Schluß, folgt.)