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Klose &
Ga
920
Chronik der Kunst und Wissenschaft.
Schnitzlers „Reigen“. —
Leo Weismantels „Totentanz 1921“.
U
—0
Tir haben im Rahmen unserer Chronik
reichen Presse, viele von der Verteidigung
1 wiederholt vom deutschen Theater
herangeholte Sachverständigen haben sich
und den Notwendigkeiten, es aus dem In¬
unbedenklich für den „Reigen“ ausge¬
nern heraus geistig zu erneuern, gesprochen;
prochen und ihn sogar als eine sittliche
wie wiesen um so öfter schon auf die Ver¬
Tat erklärt. Es mag nun sein, daß die
suche hin, diese seelische Umgestaltung des
Gegner von Schnitzlers „Reigen“ übers
deutschen Theaters zu erreichen. Unerhört
Ziel schossen, vielfach sich auch in den
viel Arbeit wurde bis jetzt auf diesem
Mitteln der Abwehr vergriffen.
Gebiete geleistet; ihre Erfolge treten
Radaumachen ist leider heute vielfach schon
immer deutlicher in Erscheinung; nicht
zur Mode geworden; und viele glauben,
weniger aber die unerbittliche Notwendig¬
auf diese Weise auch Fragen zur Lösung
keit, alle diese Arbeiten mit der Anspannung
zu bringen, die immerhin eine tiefere Be¬
aller Kräfte fortzusetzen. Denn fast jeder
chäftigung, und daher auch eine viel sorg¬
Monat bringt neue Beweise, daß im
ältigere und sachlichere Behandlung er¬
deutschen Theater vielfach noch ein Geist
fordern.
Wer Schnitzlers „Reigen
herrscht, der nicht berufen ist, die innere
Buch gelesen hat, der wird sicher die
Ge¬
Kraft des deutschen Volkes, die allein
wandtheit dieses mit echt österreichischer
einen kulturellen Neuaufbau des Vater¬
Lässigkeit und Grazie geschriebenen Dia¬
landes ermöglichen kann, zu stärken. Nach¬
loges anerkennen und ebenso den leichten
dem das vor dem Kriege bestehende Ab
resignierenden Ton bemerken, der über
kommen zwischen den französischen und
dem Ganzen schwebt und der sozusagen
den deutschen Bühnenschriftstellern wieder
andeuten will, daß das bloße Geschlechts¬
in Wirkung gesetzt wurde, können sich
eben niemals eine tiefere Erfüllung brin¬
viele deutsche Bühnen nicht genug
be¬
gen kann und deshalb mit einer gewissen
eilen, um die seichte französische Schwank¬
reifen Ironie zu betrachten ist. Auf dieses
und Lustspielliteratur zur Aufführung zu
Moment stützt sich vor allem die Ver¬
bringen. Besonders in den Großstädten
teidigung des „Reigens“. Es darf aber
muß man diesen Mangel an Ernst und an
nicht übersehen werden, daß diese leichte
zielschauendem Charakter beobachten. Das
resignierende Ironie dem typischen öster¬
Beispiel der Großstadt wirkt aber auf die
reichischen Schriftsteller überhaupt liegt
Provinz, die ja zum Großteil immer noch
und von Schnitzler in fast allen seinen
die Großstadt=Spielpläne kopiert.
Wir
Werken, wahrscheinlich sogar ganz un¬
erleben es, daß nicht nur Berlin, sondern
bewußt,
zum Ausdruck gebracht wird.
auch wesentlich kleinere Provinzstädte be¬
Dazu kommt die Frage, ob dieser leichte,
reits sogenannte Nachtaufführungen ver¬
ironische Ton bei der Aufführung von den
suchen, deren Spielzeit etwa um
10 Uhr
darstellenden Künstlern getroffen wird.
abends beginnt, und die selbstverständlich
Wir zweifeln daran um so mehr, als dieser
nur ganz leichte Ware auf die Bretter
leicht dahin schwebende Ton, der sich aus
führen.
dem Dialog beim Lesen des Buches sicher
Am deutlichsten hat die schweren Schäden
empfinden läßt, durch das gesprochene
dieser Gesinnung der in Berlin geführte
Wort nur allzu leicht erstickt werden kann,
Prozeß um die Aufführung von Schnitz
zumal die Darstellung selbst den äußeren
ers Reigen“ bloßgelegt. Die Debatte
Vorgang stärker unterstreichen und ins
um den „Reigen“ geht nun schon seit
Bewußtsein bringen wird als eine bloße
Monaten
Sie wurde sehr erregt geführt
Lektüre. Vor allem aber deckt sich die
und erreichte einen Höhepunkt, als von
Frage auf, ob die Zuschauer diesen ironi¬
einer Gerichtskammer die Aufführung des
sierenden Ton, diesen angeblich über¬
„Reigens“ förmlich als eine sittliche Tat
egenen Standpunkt des Dichters und
anerkannt wurde, während die Proteste
seines Werkes tatsächlich auch empfinden
gegen die Aufführung aus weitesten ernst
und so über das bloße Gegenständliche
zu nehmenden Kreisen sich häuften und
des „Reigens“ sich hinausgehoben fühlen.
auch verschiedene städtische und andere
Es wird auch von den Sachverständigen
Korporationen in verschiedenen Städten
kaum jemand ernstlich behaupten wollen,
Deutschlands die Aufführung verboten
daß selbst eine gut überlegte und ernst ge¬
haben. Der Prozeß wurde mit dem Auf¬
nommene Aufführung diese Gewähr bieten
gebote aller jener Kräfte geführt, die in
kann. Denn der Großteil der Zuschauer
solchen Fällen immer da sind, um der¬
wird im Reigen“ lediglich den äußeren
artige Möglichkeiten auf der Bühne zu
Vorgang sehen, zumal dieser, wie schon
halten. Ein großer Teil einer sehr einflu߬
erwähnt, keineswegs durch jenen ironi¬