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Reigen
Nr. 324
Sonntag, den 13. November 1921
Berliner Tageblati
Bachberstan
ige un
d Zeugen im „Reigen“=Prozeß.
daß Sie bei Ihren Wahlreden als Landtagskandidat in der
Die Beweisaufnahme noch nicht beendet
Priegnitz und an anderen Orten das Publikum scharf gemacht
In der gestrigen Verhandlung im Reigenprozeß wurden im
haben gegen die Juden, die jüdische Demokratie und die jüdischen
Laufe der eingehenden Zeugervernehmung noch einige
Regierungsvertreter und dem Publikum den Unterschied zwischen
nachträglich geladene Sachverständige vernommen.
den Juden und den deutschvölkischen Kreisen klarzumachen ver
Rechtsanwalt Dr. Arthur Wolff, geschäftsführender Direk¬
sucht haben? Wenn dies der Fall ist, so würde hieraus hervor¬
tor des Deutschen Bühnenvereins, wird als Zeuge und Sach¬
gehen, daß es sich mehr um ein antisemitisch=deutsch¬
verständiger vernommen. Er hat weder bei seinem ersten Be¬
völkisches Treiben, als wie um einen Kampf für die an¬
such des Theaters bei
geblich gefährdete Sittlichkeit handele.
der „Reigen“=Vorstellung, noch bei dem
zweiten Besuch am letzten Sonntag trotz sorgfältigen Aufpassens im
Zeuge Dr. Jenne: Muß ich diese Frage beantworten?
Pubilkam keine Spur von Erregung und Lüsternheit wahr¬
Staatsanw. v. Bradke: Ich bitte, diese Frage nicht zuzu¬
genommen Die Vorstellungen haben

lassen, da durch sie dem Zeugen vorgeworfen wird, daß er sich aus
bühnentechnisch aus¬
politischen Motiven zu einer unwahren Aussage habe hinreißen
gedrückt — lauwarmen Eindruck gemacht. Es war anscheinend für
lassen.
das Pubilkum mehr langweilig als aufregend.
Hier in
Rechtsanw. Heine: Ein politisch leidenschaftlicher Mensch
dieser Strafsache komme es nicht in erster Reihe darau
wird leicht die nötige Objektivität außer acht lassen und stets der
an, was einzelne Sachverständige über den künstlerischen Wert
Gefahr ausgesetzt sein, bei seinen Wahrnehmungen und Urteilen
des Werkes gesagt haben, ebensowenig auf den Wert, den einzelne
sich von seiner vorgefaßten Meinung beeinflussen zu lassen. (Das
Zeugen des Staatsanwalts dem Buche beilegen. Ein Teil dieser
Gericht erklärt nach kurzer Beratung die Frage für zulässig.)
Zeugen trete an die ganze Sache doch mit außerordentlich lebhaftem
Fanatismus und fast krankhafter Hysterie heran. Durch Beschluß
Zeuge Dr. Jenne erklärt hierauf: Ich habe als
der 6. Zivilstrafkammer des Landgerichts III sei das Buch als nicht
Wahlkandidat der Deutschnationalen Volkspartei
unzüchtig
reigegeben worden, und so kann es sich
nur darum handeln,
ob die angeklagten Schauspieler
gesprochen, und bin, da in deren Programm auch eine gewisse
unzüchtige Handlungen bezangen haben. Drei wirk¬
Stellungnahme gegen das Judentum enthalten ist, auch auf diesen
lich ernst zu nehmende Zeugen bekämpfen die Vorführung dieses
Punkt zu sprechen gekommen. Ich bekämpfe das Werk als
Werkes aus einer anderen Weltanschauung heraus: das sei immerhin
olches und nicht etwa, weil der Autor Herr Schnitzler ist, von dem
von der Seite aus vielleicht berechtigt „aber auch diese haben an
ich nicht einmal weiß, ob er Jude ist.
der Darstellung nichts auszusetzen gehabt. In der
Rechtsanw. Heine: Haben Sie nicht einmal gesagt: Jeder
Darstellung sei absolut nichts Unzüchtiges zu erblicken. Er habe
Sozialist ist mir lieber, als so ein verfluchter Judendemokrat?
Hunderte von Theateraufführungen in ganz Europa in allen mög¬
Zeuge: Nein.
lichen Sprachen angesehen, darunter befanden sich viele, die direkt
Rechtsanw. Heine: Haben Sie auch nicht das Wort „Juden¬
auf die Lüsternheit und Sinnlichkeit eingestellt waren, beim „Reigen
demokrat“ benutzt?
sei gerade das Gegenteil der Fall.
Zenge: Nein, ich würde ein solches Wort auch nicht mit
meiner Zugehörigkeit zum Richterstande vereinbar halten.
Gutachten von Regisseuren.
Der Schriftsteller Artur Eloesser hat in der Reigenauf¬
Der Zeuge und Sachverständige, Regisseur Emil Linde vom
führung nichts unzüchtiges entdeckt und kein Aergernis
Lessing=Theater ist gleichzeitig Verwaltungsratsmitglied der Ge¬
daran genommen. Als er vor zwanzig Jahren von dem Dichter
nossenschaft deutscher Bühnenangehöriger. Er schließt sich in längeren
Schnitzler das Buch „Reigen“ in Empfang nahm, hat er es als ein
Ausführungen den Darlegungen anderer Sachverständiger über der
kleines Juwel in der Schatzkammer der deutschen Literatur betrachtet.
künstlerischen Wert und die Bedeutung des „Reigen“ an und be
Der Sachverständige ist jahrzehntelang Theaterkritiker gewesen und
streitet, daß es die Lüsternheit erregend und unzüchtig sei.
hat sechs oder sieben Jahre lang als beratender Mann dem Lessing¬
seiten der Darsteller sei auch nicht ein einziger Tonfall oder eine
Theater angehört. Er ist Verwaltungsdirektor des Schutzverbandes
wegung zu beobachten gewesen, die als obszön gelten könnte.
Im
deutscher Schriftsteller und mit literarischen und Theaterangelegen¬
Gegenteil, die Darsteller haben aus dem Stück, das flammend der Gesell¬
heiten wohl vertraut. Er schließt sich im allgemeinen den Aus¬
schaft eingeprägt werden sollte, ein ziemlich farbloses Werk gemacht.
ührungen Ludwig Fuldas an. Er erinnert sich, daß
Der Regisseur Dr. Karl Heine hat den „Reigen“ bei der
einerzeit in einer Direktionskonferenz des Lessing=Theaters auch
Premiere und in der Separatvorstellung gesehen und zwischen den
darüber verhandelt wurde, ob man die Aufführung des „Reigens“
beiden Aufführungen nur geringfügige Unterschiede konstatiert. Er
nicht ermöglichen sollte; damals war es noch nicht bekannt, daß Rein¬
habe, so bekundet der Zeuge, nicht das mindeste gesehen, was als
hardt das Aufführungsrecht schon übertragen erhalten hatte. Die
unzüchtig anzusehen sei. Als Sachverständiger müsse er erklären
bei der damaligen Konferenz geltend gemachten Bedenken waren
daß nach seiner Meinung Arthur Schnitzler mit seinem „Reigen“ eine
nicht sittlicher Natur. Man war der Meinung, daß das Buch wun¬
tiefe leidenschaftliche Anklage gegen die Gesellschaft und gewisse nie¬
dervoll sei, aber die Bühne es leider
auf¬
nicht ganz
drige, menschliche Triebe habe erheben wollen. Es sind ja keine wirk¬
nehmen könne.
Die Aufführung des Werkes
im Klei¬
liche Menschen, die dort auf der Bühne gezeigt werden, sondern nur
nen Schauspielhaus sei nicht nur dezent, sondern über¬
Typen ihrer gesellschaftlicheneise, die alle gleichmäßig er¬
dezent gewesen; für das Stück haben diejenigen, die den Sturm¬
bärmlich sind in erotischer Beziehung.
lauf gegen den „Reigen“ unternommen haben, eine unbezahlbare
Reklame gemacht. Das Schnitzlersche Werk sei ein Kunst¬
Rechtsanw. Wolfgang Heine: Der Herr Sachverständige
werk. Die Musik sei absolut nicht zu verdächtigen; sie sei melan¬
Dr. Heine hat zu denen gehört, die Ibsen in Deutsch
cholisch und passe durchaus zu dem Werk, das aus verwundetem Her¬
land eingeführt haben.
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es Ihnen bekannt, daß es
zen geboren sei. aus Mitleid mit dem Teile der Menschheit, der
Leute— gao, die
gegen die Aufführung der
„Gespenster
verachtet wird, aber bemitleidenswert erscheinen müsse. Die ganze
als unzüchtig und anstoßerregend protestierten und sogar ein
polizeiliches
Darstellung habe eine große künstlerische Enthalt¬
Verbot durchsetzten?
Zeuge bestätigt dies.
amkeit gezeigt. Warum Professor Brunner glaubte, sich auf
Sachverständiger Dr. Alfred Kerr: Ist Ihnen bekannt, daß bei
Herrn Schlaikjer verlassen zu dürfen, könne er sich nicht recht vor¬
der ersten Aufführung von Gerhart Hauptmanns „Sonnenaufgang
tellen. Der Sachverständige wendet sich schließlich gegen den Zu¬
ein großer Krawall im Zuhörerraum entstand und ein Zuhörer sogar
stand der Rechtlosigkeit und Schutzlosigkeit, in dem die deutschen
eine Geburtszange mitgebracht und an einer bestimmten Stelle des
Schriftsteller zurzeit sich befänden und sich dadurch in ihrer
Stücks hochgehalten hatte. Der Sachverständige Dr. Heine bestätigt
Schaffensfreudigkeit bedroht fühlen.
auch dies.
Rechtsanwalt Heine erinnert daran, daß selbst einem Goethe
Sachverständiger Eloesser macht darauf aufmerksam,
daß
es nicht erspart gewesen sei, von einem Manne wie Herder, der sein
diese Geburtszangenaffäre sich an einer Stelle abgespielt hatte, die
Feind gewesen sei, wegen seiner Werke „Die Braut von Corinth“
nur im Buche gestanden hatte aber gar nicht auf der Bühne wieder¬
und „Gott und die Bajadere“ der Unzüchtigkeit bezichtigt
gegeben worden war.
zu werden. Der Staatsanwalt bestreitet eine solche Bedrohung.
Der vom Gericht auf Antrag der Verteidigung nochmals ge¬
Der nachträglich als Sachverständiger geladene Professor Orlik
ladene Landgerichtsrat Dr. Jenne wird zunächst vom Rechtsanw.
vom staatlichen Kunstgewerbemuseum in Berlin erklärt, daß er bei¬
Wolfgang Heine gefragt: Ist es richtig, Herr Landgerichtsrat,
nahe dasselbe sagen müsse, wie der Sachverständige Eloesser. Er
baren Musikkörpers. Ausgeglichenheit und Fügsamleit gegenüber
Zur Pfychologie
dem Taktstock des Lei##es waren das Ihoal, nicht etma sieghaftes
Druck
erkläre, daß er nach der L#
mäßig, zu gemäßigt und
ist immer moraltsch, un
Rembrandt die heilige Fan
hat, so ist eben beides mor
Schnitzler ist ein Kü
Künstlerin, und alles, was
Der Generalsekretär d
Julius Hirsch, bekundet
führung nichts Unanständ
„Soldat und Dirne“
habe in Wien oft des Nac
im Leben gesehen, nur vie
erhält darnach nochmals da
und bemerkt unter anderen
Wiederholung des Geschlech
Szenen außerordentlich auf
aber sage:
nicht eine Ver
stumpfung der Anreizung
Sehr charakteristisch sei es,
nach den ersten drei Bilder
Tabak sei, der dort auf der
her aber doch die sittliche
Werk zieht. Gerade durch
kommen. Eine Analogie
sucht bieten. Nehmen
wil
Trunkszene mit einem
wird dies wohl als Einzeler
gehen, wenn dann aber sol
gesetzt wiederholen, so ist da
der Trunksucht als des Did
Abschreckung. Mit aller En
daß im „Reigen“ der Gesch
ist ausschließlich der psychol
mals kann das rein psycho
werden. Der Goethe=B
auch im Sinne des Kamp
Literatur. Hier könne aber
Der Dichter habe die Geda
nur gemacht, um anzudent
ihn nicht interessieren.
In einem Schlußwort
wird hier von Professor 2
gewiesen, der die Jugend
glaube, daß man diese Ge
Nädchen sehen, das durch d
Ein solches Mädchen wäre
da ihre Tugend offenbar nie
lich, wenn man die Jugen
vill, da man nicht einmal
den Gefahren der Straße zu
Sachverständige,
Der
3
(Leipzig) kommt nach einer
keine Theotervorstellung mö
Jungfer männlichen oder in
auszusetzen hat und ihm an
Kunst zu geben, ist nur da
losen, völlig der Kunst sich
Es entspinnen sich im An
lerische und ästhetische Zwie
dem Profeffor Brunner
ständigen, Dr. Osborn,
und dem Staatsanwal
ob es etwas so Auffälliges ist
nicht als bühnenfähig betrag
worden ist.
Drofe
von der Universität Leipzig
vor 20 Jahren gelesen und
das Werk sich aus tiefstem
Liebesgenuß ohne Eros ist
Wehgeschrei des Dichters, den
vorhält und sagt: das, was
Trieb; es liegt ein Fluch üb
keine Seelengemeinschaft hin
spricht nicht als Prediger, so
Dann erhielt Prof. Bru
Farben ein Bild von seinem
das hohe C des Sängers od
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" Wit ondaron
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