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11.
Reigen
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin IO. 45, Georgenkirchplatz 21!
Don neute Deuhthlang
Zeitung:
Berlin
Ort: —
Restost
Natum:
Dostojewsky und Schnitzler
Eine Umfrage der „Vossischen Zeitung“ an einige
□ deutsche Erzähler über deren Stellung zu Dosto¬
jewsky Hibt Einblicke weniger in Dostojewsky als
in die Gerstesverfassung dieser Erzähler. Sie gibt
aber auch Einsicht in den Geist einer Epoche, die,
obwohl ihrem Wesen nach tragisch, keine tragisch
gestimmten Menschen hat. Ungeheure Zusammen¬
stürze vor unseren Augen, gigantisches, bisher noch
fruchtloses Versuchen einer neuen Weltordnung,
Völker und Klassen sich gegeneinander verblutend,
grauer Hunger und strotzender Luxus — eine Welt
in Aufruhr. Die Menschen aber darin klein, un¬
heldisch, an lächerlichen Winzigkeiten hängend, total
materialisiert. So ungefähr muß es ausgesehen
haben im sterbenden Rom: neue Welt türmte sich
auf alte, und die Menschen wußten von nichts.
Auch versinkende Kulturen können groß sein, wenn
nur die Menschen groß sind, wenn es zeugerische
Menschen gibt, die mit unendlicher Hingebung das
#ns dem Ehaos herausformen. Sind
solche Menschen da, so kann man auch in Unter¬
gängen niemals von Untergangszeit reden¬
In Sturz und Wirrung und Brandung sucht
man heute behäbige oder unbehäbige Vergnügungen.
Bourgeois oder Arbeiter, es ist alles gleich: kapi¬
talistischer Lebensgenuß das Höchste. Diese Zeit
kann keine Tragödie gebären, diese Zeit hat auch
nur Erzähler, die entweder künstlich aufgeblasene
Ekstatiker sind oder deren letztes Lied die Gemüt¬
lichkeit ist und die angenehme Geste. Diese Zeit
liebt das Biedermeier, in diese Zeit paßt ein Mann
wie Georg Hermann, der liebenswürdige Verfasser
der Jettchen Gebert.
Georg Hermann nun hat sich über Dostojewsky
geäußert, und man kann sich denken, was heraus¬
gekommen ist. Offen ist er wenigstens, dieser nette
Poet, und das ist sehr viel erfreulicher, als wenn
er einen pathetischen und dabei nichtssagenden
Summs machte wie Bernhard Kellermann. Für
Hermann ist Dostojewsky immer eine Speise ge¬
wesen, die er nicht genießen konnte. „Mich inter¬
essieren auch keine Mörder. Ein anständiger Mensch
mordet nicht.“ Und weiter: „Dostojewsky mag ein
Riese sein — aber ein Künstler ist er nicht. Ich
komme und komme über das Kolportagehafte seines
Stils, das Kolportagehafte seiner Mache nicht
hinweg.
Ungeheuer charakteristisch solche Außerung. Der
Mann des Alltags gegen den außergewöhnlichen
Menschen. Es schauert ihn vor dem Außer¬
gewöhnlichen. Der große Künstler aber schauert
beim Außergewöhnlichen. Alle Zeiten, die wußten,
wie Tragödie wächst, haben so gefühlt, alle, die
wußten, daß nur aus dem auf letzte Formel ge¬
brachten Kampf furchtbarste und fruchtbarste Er¬
griffenheit wird. Der anständige Mensch mordet
nicht im Leben. Aber er mordet in der Tragödie.
Es zeugt von all dem gottverlassenen Realismus
des neunzehnten Jahrhunderts, wenn man die aus¬
gleichenden Gesetze unserer Zivilisation einfach über¬
trägt auf die Kunst und wenn man eine Kunst
die der Zivilisation nicht entspricht, Kolportage be¬
nennt. Was im Leben applaniert wird hat die
Kunst darzustellen in aller Schärfe, das ist ihre
tiefere Wahrheit. Die Abgründe hat sie zu öffnen,
daß wir erschauernd stehen vor so viel Mensch¬
lich Übermenschlichem. Dostojewsky hat es ver¬
mocht.
Heute jedoch zerrt man aus Geschäftsgründen
Nichtigkeiten auf die Bühne, die angeblich Abgründe
eröffnen, in Wirklichkeit aber nur die erotischen
Triebchen als Vorfreude für den Abschluß des
Abends kitzeln. Eine solche Nichtigkeit Schnitzlers
Reigen, um den man jetzt einen großen Prozeß ge¬
führt hat. Die Sachverständigen, die um Himmels¬
willen nur nicht unmodern scheinen wollten
würden sich ja sonst jeden Kredit nehmen in Ber¬
Ain W! —, die Sachverständigen haben den Reigen
für ein großes Kunstwerk erklärt. Aber er ist nicht
mehr als eine wienerische Gefälligkeit mit papri¬
zierter Pointe, ungarisch=wienerisch, vorausgeahntes
Gemisch von Molnar und Felix Salten. Nur einem
ganz Blöden werden die Veranstalter der Auffüh¬
rung einreden können daß die Sache aus künst¬
lerischen Gründen gegeben wurde. Eine kapitali¬
stische Angelegenheit, weiter nichts. Daß auch die
sozialistische Presse, ja gerade sie, so eifrig für den
Reigen eintrat, zeigt die kapitalistische Verseuchung
auch dieser Kreise. Man echauffiert sich „um der
Freiheit der Kunst willen“ für einen geschickt ge¬
machten Schmarren.
Darüber kommt nur der wirkliche Künstler zu
kurz, alle diese Stücke nehmen ihm Licht und Luft,
und er hat deshalb gar keinen Anlaß, sich für sie
einzusetzen, wenn er natürlich auch den Veranstal¬
tern nicht gerade Gefängnis wünschen wird. Einer
der Sachverständigen behauptete mit erheblichem Auf¬
wand an Lungenkraft: „Wahre Kunst ist immer
moralisch, eine unmoralische Kunst gibt es nicht.“
Das ist ebenso absolut richtig, wie es eine absolute
Trivialität ist. Himmel und Hölle und noch einiges
mehr soll der wirkliche Künstler in sein Werk
zwingen. Es gibt schlechterdings für ihn keine
Grenzen. Aber die Frage ist nur, wo denn das
Kunstwerk beginnt. Erst wo der große Schauer
anfängt — und der ist auch möglich mitten in der
tollsten Komödie — da hebt es an.
Lächerlich, so etwas vom Reigen auch nur zu
erwarten. Aber selbst angenommen, er sei ein
Kunstwerk — kommt es nicht auch darauf an, mit
welchen Gefühlen und mit welcher Absicht man es
darbietet? Die Aufführung soll eher langweilig
gewesen sein als pikant. Ich habe sie nicht—
ehen, da ich nicht gern Zeit verjuxe und da mir
die Lektüre vor fünfzehn Jahren vollkommen ge¬
nügt hat. Ist aber in der Tat die Aufführung
langweilig gewesen, so beweist das nur den Tief¬
stand der Berliner Schauspielkunst. Es läßt sich
schon aus dem Schnitzler allerhand herausholen,
und es kann doch auch gar kein Zweifel sein, daß
die Direktorenfirma keine Langeweile beabsichtigt hat.
Sie wollte ein paar hundert Aufführungen — Blüte
des Geschäftstheaters.
Und das ist es gerade: die paar hundert Auf¬
führungen. Ich nehme nicht gern das Wort Un¬
sittlichkeit in den Mund, weil es vom braven
Bürgertum verhunzt worden ist. Unsittlichkeit er¬
innert an Jungfrauenvereine. Aber gehen wir ein¬
nal auf ein unbürgerliches, rein künstlerisches Emp¬
finden zurück, so ist unsirtlich alles das, was kleine
vertuschelte Gefühlchen auslöst, aber nicht die großen
Gefühle. Unsittlich in diesem Sinne kann die größte
Kunst wirken, wenn sie unsittlich dargeboten wird.
Das hat also mit dem Kunstwerk garnichts zu tun
Hier liegt der Kardinalfehler aller Sachverständigen.
Goethes „Tagebuch“ kann den reinsten und kann
den gemeinsten Eindruck machen. Das hängt ganz
ab vom Willen der Darbietenden und der Form
der Darbietung. Goethes „Tagebuch“, an hundert
Abenden vor hunderttausend Menschen gelesen
wer zweifelt, was die Absicht war? Hätte der
Herr Direktor und die Frau Direktorin des Kleinen
Schauspielhauses in Berlin den Reigen statt als
Repertoirestück, statt als tägliches Futter einige
Male als Sache für sich gegeben, so hätte alles
anders ausgesehen.