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10. Das Vermaechtnis
Gewiß, auch diese Kunst der Zeitcopie, der Sitten und
bildetes Deutsch zu reden. „Der richtige Berliner“ verschwindet
vom Schreibpult, und es erwacht das Bedürfnis nach einer neuen Menschenbeobachtung, der Ideen, Mitempfindung, der Nach¬
gestaltung wird immer noch ästhetisch werthvolle Werke hervor¬
Sammlung poctischer Bilder und Vergleiche. Neue Takente sind
bringen können. Sie kann eine Kunst feiner und vornehmer
nicht aufgetreten, die etwas Besonderes und Eigenes zu sagen
Talente sein, wie sie das Nachgoethische Deutschland zahlreich
wußten. Will Alles wieder in Herkömmlichkeit erstarren? Weht
hervorgebracht hat. Und auch unter den Jüngeren sind echte und
es so bald schon fröstelnd über herbstliche Felder dahin? War
tüchtige Künstler, wie es die Keller, Meyer, Fontane waren. Aber
die magna restauratio der Kunst vielleicht gar keine große
die Jungen, die i: den Achtzigerjahren so ungeberdig auf die
allgemeine Erneuerung, bedeutete sie vielleicht gar nicht den
Bühne stürmten, kündeten eine ganz andere Revolution an. Sie
Aufgang einer neuen Zeit, einer neuen Welt= und Kunst¬
liefen Sturm auch gegen die Goethe und Schiller. Sie wollten
anschauung? Sondern nur eine modische Bewegung, wie sie alle
den Pessimismus der Literarhistoriker zu Schanden machen,
zehn Jahre zu kommen und zu schwinden pflegt? Haben diese
daß vom Jahre 1832 ab auf lange Zeiträume hin nur noch
Neueren nicht nur genau so im Zeichen Ibsen's gesiegt, wie
Raum für Epigonen sei. Sie haben Hauptmann als neuen Goethe
einstmals die Lindau und Lubliner genau so glänzende Bühnen¬
ausgerufen.
siege im Zeichen der Sardon und Dumas erfochten?
Das will noch nichts Besonderes heißen, wenn eine Kunst
Aber zu dieser großen Poesie ##lungen wir nur, wenn unsere
Spiegel und Abdruck ihrer Zeit ist. Wenn sie den Menschen
Künstler nicht ausruhen, weder auf den Betten des Naturalismus,
ihrer Tage getreulich schildert und heute all die Gedanken über
noch auf denen des Symbolismus und der Romantik. Dazu
Ehre und Duell, freie Liebe und Uebermenschlichkeit colportirt,
genügt es nicht, daß man Uebermenschen auf die Bühne stellt,
die in allen Zeitungen und Büchern zu lesen sind. Das ist in
die eben von der Lectüre Nietzsche's aufgestanden sind. Oder
jeder Zeit geschehen und gerade darauf haben sich die „Kleinen
sozialistische Agitatoren und ethische Predigtbrüder, die so schon
von den Meinen“, von Iffland bis auf Raupach, Birch=Pfeiffer
in allen Gassen umherlaufen. Sondern als selber Einer muß
und Lindau immer am besten verstanden. Auch der Lindau'sche
der Dichter kommen, der sich seine Weltanschauung gegründet hat
Commerzienrath war ein Zeittypus. Und wenn wir dem
und die Dinge wieder mit ganz anderen Angen ansieht, als die
socialistischen Drama zugeinbelt haben, so begeisterte man sich in
großen Alten der letzten Periode, die Ibsen, Zole, Tolstoj. Nicht
den Siebzigerjahren für das Kulturkampfdrama.
ihre Wege wird er gehen; sondern daß er gerade auf ganz
Nein, die große Kunst ist nicht Widerhall der Zeitstimmen, anderen Wegen kommt, dus kennzeichnet ihn. Das bedeutet geistige
sondern sie redet eine Sprache, die noch nie gehört wurde. Se#Enmickelung und neue Kunst.
ist eine Eigenschöpferin! Sie gestaltet neue — ihre Menschen!
Die vier Dramatiker, die uns in den letzten Wochen
Sie verkündet eine Weltanschauung, Ideen und Formen, die man
Wienerisch, Pommerisch, Griechisch und Italienisch gekommen
nur von ihr erfahren kann. Sie ruft eine andere Zeit, ein
sind, kann man in zwei Gruppen theilen. Die vier geographischen
anderes Geschlecht wach. Sie selber bewegt die Dinge, und wird
Wörter kennzeichnen schon den stilistischen Unterschied. Arthur
nicht nur von ihnen bewegt.
Schnitzler in seinem „Vermächtnis“ und Max Dreyer in seinem
Einen solchen unerschöpflichen Geistesmenschen wird man
humoristischen Schwank „Großmama“ halten die Fahne der
in den Vorderreihen unserer Dramatiker einstweilen noch vergeblich
guten alten Ueberlieferung der Achtzigerjahre hoch. Sie sind dem
suchen. Unter ihnen ist auch nicht ein Einziger, der eine neue
Naturalismus treu geblieben. Einem Naturalismus, der glatt,
Mnnstaus der Quelle schöpfen konnte, aus der ewig und allein
elegant und liebenswürdig ward und fast schon etwas abgegriffen
jede neue Kunst emporsteigt: aus der Quelle einer selbstständigen,
aussieht. All die Allheilmittel der Kunst, die der neue Stil an¬
eigenartigen und sortgeschrittenen Weltanschauung. Solche Dichter
empfahl, werden da klug und sicher angewandt. Die Poesie der
sind allerdings zuletzt Ibsen und Zola gewesen und für Rußland
nächsten Nähe, der Familienstube, der Vaterstadt, der heimatlichen
war es Tolstoj; aber unsere Poeten, ob sie nun Hauptmann oder
Provinz; der Dialect, das Milien, das Localcolorit, saubere und
Sudermann, Halbe oder Schnitzler, Fulda oder Max Dreyer
seine Charakteristik des Alltags= und Durchschnittsmenschen, hie
heißen, so viel künstlerische Empfindung und Gestaltungskraft in
und da ein Hauch lyrischer Stimmung: weder Arthur Schnitzler
ihnen einzeln auch steckt, so fehlt ihnen doch allen gleichmäßig
noch Max Dreyer haben dieses Neuland unserer Kunst entdeckt,
das Wesen des genialen Menschen. Sie sind Mitläufer, nicht
aber Beide sind glückliche Adepten, die mit den gegebenen Mitteln
Führer unserer Cultur. Sie geben uns Lesefrüchte, Nach¬
etwas anzufangen wissen. Der echteste künstlerische Erfolg dieser
empfindungen aus Nietzsche'schen Schriften, Ibsen'schen, Zola'schen
Woche ward dem Wiener Dichter zu Theil. Er gehört offen¬
und Tolstoj'schen Werken. Sie dramatisiren sehr hübsch unsere
bar zu den kleinen aber feinen Talenten, die immer sicher
Zeitgeschichte, aber sie spielen selber keine Heldenrolle.
gehen, nicht enttäuschen und nicht überraschen, vor übermüthigen
Wenn Felix Philippi in seinem Drama „Das Erbe“
Sprüngen sich hüten und eine Spezialität sich ausbilden. Sie
Bismarck als Fabriksdirector auf die Bühne bringt, so macht er
malen mit großer Geduld immer dasselbe Gemälde, und diese
dabei den Kammerdiener oder den Reporter, der sich unter einen
gute Ausdauer führt gar balb zu einer Virtuosität, die der
Tisch versteckt hat und mit gespitzten Ohren lauscht, was denn
Künstler respectirt und die vom Publikum angestaunt und
wohl der alte und der junge „Herr“ damals in einer welt¬
bewundert wird. Die raffinirte Arbeit, die in solchen Effect¬
geschichtlichen Stunde miteinander geredet und wie sie sich gegen¬
stücken überall sichtbar wird, all die Sauberkeit und Correctheit
seitig gezaust haben. Und mit ihm kriecht das ganze Publikum
haben gerade für das Laienange etwas Bestechendes. Ein origineller,
unter den Tisch. Gäbe doch mäncher zehntausend Mark darum,
ein tiefer Mensch wird immer auch unbequem sein. Er will
hätte er, an irgend einem geheimen Orte versteckt, diese Seene
gesucht werden. In unsere theatralischen Abendgesellschaften paßt
mitanhören können. Und da das mit Schwierigkeiten verknüpft
besser der Elegant, der sich anschmiegt und einfügt, und von dem
ist, so sucht man im Philippi'schen Bismarckdrama, wie früher
wir gewiß sind, daß er stets einen frischen Kragen angelegt
in den Samarow'schen Romanen, das allerdings sehr kümmerliche
hat. Und sorgfältig gekleidet wird Schnitzler immer kommen.
Surrogat dafür. Gewiß, es ist ein plumpes Machwerk, dieses
Und immer wieder wird er uns vom kleinen süßen Fratz er¬
Philippi'sche Schauspiel, weshalb es denn auch vom Publikum
zählen, bald lächelnd und von oben herab, mit der Ironie des
am begeistertsten ausgenommen wurde und an äußerem Erfolg
Lebemannes, bald mit den Gefühlen eines Liebhabers, bald
alle anderen in den Schatten stellte, und künstlerisch wird man
Leichtfuß, bald Bußprediger. Damit man ihn so leicht wie
Philippi weder mit Halbe und Schnitzler, noch mit Fulda oder
möglich versteht, wird er auch stets seine These dazu setzen. Wie
Max Dreyer vergleichen können. Aber im Kern bieten sie doch
Luther schlägt er sie an die Thür an. Seine Moral und seine
Alle nur Dramatisirungen der Zeitgeschichte und der Zeitideen.
Immoral aber überschreitet nie die Grenze des im Salon
Der große Künstler jedoch ist immer mehr als nur Zuschauer
Gestatteten.
und Beobachter, Kammerdiener und Reporter. Er will selber
Geschichte machen. Er kriecht nicht unter den Tisch und hört zu,
Wenn Max Dreyer und Schnitzler die glatten Gartenwege
sondern er ist selber der Bismarck, der redet. Homer war nicht
des eleganten Naturalismus wandeln, werden Fulda und Halbe
der Moriz Busch eines Achilles. Er hat ihn nicht belauscht, ihn
beanspruchen, daß man von einem „Neuen“ bei ihnen redet. In
nicht „colportirt“, sondern er schuf erst den Herven. Er selber
ihnen hat sich doch die große Entwickelung vollzogen, und sie
war Achill.
stiegen aus dem Reich der Familien=Katastrophen empor zu den