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Das Vernaechtnis
cadents. Im menschlichen Trachten zugleich von Bourgeoistraditionen
gefesselt und von modernen Freiheitsgefühlen gehoben, wird er im
is! Gravirendes zu Schulden kommen. Das Balletkorps trat im dritten
künstlerischen halb von der guten alten Wiener Sentimentalität, halb
irAkte in voller Stärke und glänzender Ausrüstung auf den Kampf¬
von pariser und belgischem Raffinement beeinflußt. Wie ja überhaupt
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platz; besonderer Theilnahme erfteuten sich die Evolutionen der beiden
die Wiener Moderne einem Samenkorn entsprang, das der Wind
E. Bohn
Solotänzerinnen Fräulein Rossi und Harlé.
aus dem fernen Westen herüberwehte und das auf dem fetten Boden
des Phäakenlandes zu üppiger Blüthe, aber wohl kaum zu eben so
reicher Fortpflanzung aufschoß. Wie alles Verpflanzte, Ueberkulti¬
virte, Ueberfeine steht sie, steht Schnitzlers Kunst der Gefahr der
Lobe=Theater.
Sterilität nicht fern. Und für das Drama, das starke und breite
Sonnabend, den 26. November.
Effekte verlangt, ist Schnitzler vielleicht am wenigsten berufen. Der
„Das Vermächtniß.“
Erfolg der „Liebelei“ war möglicherweise ein Danaergeschenk, ein
Als vor etwa vier Jahren die „Liebelei“ in Berlin aufgeführt Irrlicht, das ihn von dem Wege lockte, den seine Individualität
wurde, brach einmüthiger Jubel in Presse und Publikum aus. Man ihm vorschrieb, der zarten, duftigen Filigran=Technik der intimen
begrüßte in Arthur Schnitzler ein frisches und reiches neues Konfession, der sensation rar# im persönlichsten Geiste der psycho¬
Talent. Der Erfolg war verdient, wenn auch das Urtheil nicht logischen Studie und in de persönlichsten Form der „Anatol“=
ganz richtig. Es war ein neuer Mann, ein frisches Temperament, Plauderei. Da vermag er us die feinsten und letzten Ideen und
aber hätte man von ihm mehr gekannt, dann würde man auch
Stimmungen zu vermitteln. Was an der „Liebelei“ entzückte, war
gewußt haben, daß von dem Stücke das weitaus Beste, Wirksamste wieder etwas Verpflanztes oder, wenn wir bei dem ersten Bilde
nichts weniger als neu, sondern zweiter Aufguß war. Es giebtlbleiben wollen, ein neuer Aufguß, eine Dramatisirung alter
freilich Leute, welche den zweiten Aufguß für den feinsten halten.
Novellenstoffe.
Mir aber sind Schnitzlers „Anatol“ und sein „Sterben“ das weitaus
In der „Liebelei“ wirkte dieser Stoff noch am frischesten und
Liebste, weil Ursprünglichste, was er geschrieben. Alles Spätere sind
stärksten. Wenn Schnitzler auch in der gröberen dramatischen Form die
nur zweite, dritte, viertexu. s. w. Aufgüsse, die immer schwächer
zarten Wirkungen gröber und breiter, als Wiener vor allen Dingen
werden. Und je schwächer sie werden, desto stärker wendet der Koch
sentimentaler anlegen mußte, so entzückten doch die Stimmung, das
Surrogate an.
Milieu, das Temperament, die neuen Menschen. Das liebenswürdige
Wenn je das Wort Flauberts zutraf, daß jeder Schriftsteller Episodische hatte ja an dieser glücklichen Wirkung schon einen be¬
nur ein einziges Buch im Leibe habe, so traf es bei Schnitzler zu. deutenden Antheil und die begutachtenden Redereien der Personen
Ja, er hatte eigentlich nicht einmal ein Buch im Leibe, sondern über die Handlung nahmen größeren Raum ein, als gerade nöthig
nur ein Thema. Ein illegitimes Verhältniß zweier durch eine ge=war; aber das kleine Motiv war in dieser ersten Dramatisirung noch
sellschaftliche Kluft getrennten Liebenden, zuerst frivol, oder feig, nicht erschöpft; es füllte die kurzen drei Akte und füllte sie mit
dann mehr und mehr sittlich rein empfunden, wird durch den Tod einer reichen Menge künstlerischer und psychologischer Feinheiten.
des Einen jäh gelöst — und für den Ueberlebenden bildet tragisch Die Handlung ist ja bekannt: Fritz, der Gesellschaftsmensch, liebt
sich ein brutal erniedrigender Kontrast zwischen natürlicher und eine verheirathete Frau mit Schmerzen, und Fritz, der Gefühlsmensch,
konventioneller Moral: jene spricht ihm sittliche Gattenrechte zu, ein süßes Mädel von Herzen. Als das „Sterben“ kommt, wird ihm
diese schließt den Ehebrecher oder Konkubinen von jeder Zugehörigkeit klar, daß in der Liebelei mit Christine wohl sein echtes Glück ge¬
aus. Manchmal läßt Schnitzler das Weib sterben, wie in „Abschied“
legen hat. Mit Schauder und Erniedrigung erfährt das süße
der besten Novelle seines neuesten Buches „Die Frau des Weisen“;
Mädel, daß er, der ihr Alles gewesen, dem sie ihr Alles gegeben,
in den meisten Fällen aber läßt er es überleben, als das kompli= für eine Andere im Duell gefallen, von seinen Angehörigen begraben
zirter organisirte Versuchsthier in Sachen der freien Liebe; und hier
sei, ohne daß sie auch nur ein Sterbenswörtchen davon erfahren habe.
wieder ist es meist (z. B. in allen drei Bühnenstücken) das gesell¬
Im „Freiwild“ reichte das Liebesmotiv schon nicht mehr aus,
schaftlich einige Stufen unter dem Geliebten stehende Weib, an dem
darum pflanzte S#itzler es auf den Begriff der commentmäßigen
er sein Problem entwickelt. Der spezifische Fall Schnitzlers aber ist
Ehre. Ein aktueller Fall hatte Knalleffekte herzugeben, und der seine
die Kombination seiner beiden eigensten Motive: „Sterben“ und
intime Bourgeoisdecadent wurde zum Sensationsdramatiker. Auch
das „süße Mädel“ aus der Wiener Vorstadt. Haben wirs in dem
hier muß der Held des Stückes, schwankend zwischen Konvention und
zweiten Drama „Freiwild“ mit einer kleinen Schauspielerin zu thun,
freier Sittlichkeit, für eine Freundin sterben, doch nicht im Duell,
so könnte im ersten und dritten das Thema frei mit einer Variante
das er provozirt und verweigert, sondern auf der Straße, wo er
lauten: Der Tod und das süße Mädel.
ans Ehrgefühl sich von dem beschimpften Lieutenant über den Haufen
Die im menschlichen und künstlerischen Empfinden energielose, schießen läßt. Auch hier noch wirksame Milieustimmung, aber schon
doch überaus sensitive Dichterseele Schnitzlers hat für den Strom, der
viel umfangreichere Debatten, schon viel mehr liebenswürdige Episoden¬
zwischen den Gegenpolen blasirter Ueberkultur und naiver Ursprüng= arbeit, als in der „Liebelei“, und schon nicht mehr beherrscht von
lichkeit sich entwickelt, die empfindsamsten Organe eines Wiener De¬ dem besmotiv das nur noch den dürftigen und unergiebigen Kern