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10. Das Verngechtnis
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungeausschnitte.
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 211
(Liest die meisten Zeitungen und ist das
bestorganisierteste Bureau Deutschlands.)
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Fren
Zeitung.
Ort: —
Datum:
(Theater in der Josefstadt.) Wer würde einem Fünfziger
an seinem Geburtstag nicht die Artigkeit erweisen, ihn für höchstens
oierzig zu halten? Wer brächte es übers Herz, bei einer Schnitzler¬
Feier an den Schwimmsand zu rühren, auf dem das „Ver¬
mächtnis“ erbaut ist? Die Sentimentalitäten dieses Allerheiligen¬
dramas mögen vorübergehend das Auge trüben, die Betrachtung des
dichterischen Lebenswerkes, zu der diese Tage stimmen, wird es rasch
erhelken. Das Theater in der Josefstadt, überzeugt davon, wo alles
lieht, auch nicht gleichgiltig sein zu dürfen, schöpfte die Tränen in
Eimern. Einmalige Aufführung! Man mühte sich, seinen Tränenvorrat
auszugeben, weinte mit einer geburtstäglichen Ergriffenheit. Das
Tränenkrüglein des Stückes ging so lange zum Brunnen, bis die
ganze Geburtstagsfreude beinahe zerbrach. Es weinten: Frau Jo¬
fy (hochdeutsch), Herr Meyvelt (norddeutsch), Fräulein
Kaiser (wohlgenährt), Frau Schleinitz (mit edlem Anstand),
Fräulein Kovacs (bakschierlich), Gustav Maran (so perfid hinter¬
hältig und komisch=traurig, wie nur er das trifft), Herr Olmühl
(infolge der Situation), Herr Meyerhofer (aus Solidarität).
war die Niese. Aber die
Noch eine weinte, das
weinte aus einem elementaren Erlebnis heraus. Sie wusch mit ihren
Tränen dieses Schauspiel blank, bis es seine dichterische Seele zeigte.
Ihr gellender Schreck, wenn der Geliebte stirbt, bleibt einem im Ohr
sowie ihre Lautlosigkeit im Ohre bleibt, mit der das süße Mädel in
den Tod hinaus schleicht. Sie erst gibt diesem Stück seinen Horizont,
sie erst diesem Horizont seine Lichter und Wetter und Wolken. Es muß
noch von Herrn Lessen gesprochen werden. Man hat sich seiner
außerordentlichen, alle Gestalten scharf abgrenzenden Begabung oft
erfreut; gestern aber hat er den strebernden, lebensunfreudigen Doktor
Ferdinand Schmidt mit hundert famos beobachteten Details und in
konsequenter typischer Durchführung vorgelebt. Haltung, Spiel und
Maske verwuchsen zu überzeugender, künstlerisch vollendeter Einheit¬
lichkeit. Die Schnitzler=Gemeinde war herzlich dankbar, daß auch
Direktor Jarno dem Dichter einen Abend gab und feierte zumal
—S.
Hansi Niese bewegten Gemütes.
Klose & Seidel
= Bureau für Zeitungsaueschnitte.
Berlin NO. 43, Georgenkirebplatz 21.
(Liest die meisten Zeitungen und ist das
besterganisierteste Bureau Deutschlands.)
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Ort: —
Datum: —
16. Mai
Theater in der Josefstadt. „Das Ver¬—
mächtnis“ von Arthur Schnitzler. Nun
haben wir wieder einmal dieses Räsonnement
gegen einen philiströsen Liberalismus gesehen,
das — ganz anders als die anderen wundervoll
überlegenen Werke Arthur Schnitzlers — nicht
Menschen darstellt, wie sie sind, sondern wie sie
sein sollten, wie der Dichter sie sich von Herzen
wünscht. Ein Sterbender, der seinen Eltern das
Vermächtnis auferlegt, seine Geliebte und sein
Kind ins Haus zu nehmen, und schließlich bleibt
nach dem Tod des Knaben die illegitime Mutter
allein. Ein bißchen allzuviel zugemutet für
bürgerliche Naturen... Eine Schnitzler=Feier
sollte es werden. Und es wurde ein Fest für
die unvergleichliche Kunst der Niese und
Gustav Marans. Der gibt den liberalen
Universitätsprofessor und Abgeordneten, bläht
sich vor freisinnigen Phrasen und kokettiert mit
seinem Aufklärungsbewußtsein. Die Niese
weint erst um den Geliebten, weint dann um
das tote Kind, und sie ist immer grandios in
der Darstellung solch naiver Urgefühle, nahs
dem Instinkt.