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10. Das Vernaechtnis
BERG, THEATER.
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Arras. Da trifft Christian ein Schuss. Und nun, —
Tudenflinten. Aber, so faul die rein willkürliche
seinen toten Kameraden kann der Held nicht ver¬
Vermischung dieser verschiedenen Motive, so ober¬
raten. Erst im Tode kommt das Geheimnis
flächlich die Behandlung, so geistlos die Schürzung
über seine Lippen. Sentimental, wie der Stoff ist
und die Lösung des Knotens und so opportunistisch
die Grundstimmung des Dramas, die aber erst im
der Schluss ist, das Stück ist doch so ausserordent¬
letzten Akt durchbricht. Diese Stimmung, elegische
fich geschickt und in den einzelnen Auftritten mit
Fröhlichkeit, giebt dem Werke den eigenen poet¬
Sso viel Raffinement gemacht, dass man von der
ischen Reiz. Und auch die zierliche Anmut der
Szene nicht loskann, ob man sich auch keinen
Verse, die in der Ubersetzung von Ludwig
Augenblick über die Hohlheit des Ganzen im Un¬
Fulda!) auch im Deutschen einen reizenden Aus¬
klaren befindet. Ich kenne unter allen modernen
druck findet. Der Dialog, und Alles, was zum Dra¬
ideutschen Dramatikern keinen, der die Technik der
matischen gehört, ist ganz ungewöhnlich schwäch¬
Bühne so sicher und bewusst behandelt als Philippi.
lich. Aber die Lieder und das lyrische Element in
Aesthetisch beleidigend ist an dem Stücke die Hin¬
der Dichtung geben ihr einen Wert, der den fast
unterzerrung eines grossen historischen Vorgangs,
wahnsinnigen Erfolg, welchen die Komödie in Frank¬
der durch die Persönlichkeit, durch Ort und Zeit
reich gefunden hat, überdauern wird.
der Weltgeschichte angehört, in ein tieferes und
Uber das andere, was uns bisher das Ausland
engeres Milieu des bürgerlichen Lebens, wodurch
bescheert hat, ist wenig zu sagen. Erwähnt sei das
alles verschoben, kleinlich und peinlich wird: Bis¬
Ehebruchs- und Kokotten-Schauspiel „Zasa“ von
Frarck als Generaldirektor einer grossen Gewehr¬
Pierre Berton und Charles Simon, das mit
fabrik! Als ob durch solche Milicuverschiebung
billigen und schlechten Mitteln auf dem Felde des
der Fall symbolisiert, typisiert oder erklärt werden
jüngeren Dramas erntet, ohne dessen Kunst und
könnte!
mit einer noch viel grösseren Theater-Verlogenheit.
Ein-beachtenswertes satirisches Talent hat die
Das Ganze ein widernatürliches Gemisch von
„Neue Freie Volksbühne“ eingeführt in Kurt Aram,
Lüsternheit und Sentimentalität. — Eine technisch¬
der insder Bauernkomödie „Die Agrarkommission“
noch unreife, aber poetisch zum Teil recht feine
eine prachtvolle Burleske soziale: Beglückungsver¬
Arbeit bot uns Björnsons Sohn, Björn, mit
suche seitens der Regierung u. bäurischer Verschmitzt¬
seiner Erstlingserbeit „Johanna“. Ohne Originalität
heit geschaffen hat. Die Komik liegt allerdings rein
(wir hören lbsen, Björnson, Jacobsen, Sudermann,
in der Situation, die Charakteristik ist konventionell,
Halbe, Hauptmann und die Reden der Frauenver¬
hinsichtlich der dramatischen Mittel ist die Komödie
samimlungen aus diesem Schauspiele heraus), ist es
ganz unzulänglich. Es treibt zwar die Situation zur
doch interessant durch die Behandlung des Problems,
Entwicklung während die Menschen und ihre Re¬
die Charakteristik, trotz manchem Schablonhaften,
den etwas Konstantes haben, Unreife Szenen und
und reizvoll durch die Stimmung, aus der der Kon¬
Unbehülflichkeiten in der Verschmelzung von Hand¬
flikt sich herauslöst. Und beachtenswert ist, dass
lung und Menschen ver aten den Anfänger, der
das künstlerisch Wahre schliesslich durch das Ten¬
sic als erfindungsreichen und kräftigen Humoristen
denziöse des Dramas immer wieder hindurchdringt. Gar erwiesen hat, als Dramatiker aber noch seine
Es ist eine Art Sonnenaufgangsschauspiel der Frauen¬
Palentprobe ablegen muss.
Den Realisten voran ging diesmal Arthur
freiung einer jüngeren Künstlerin aus den Fesselg ESchnitzler mit dem Schauspiel: „Das Vermächt¬
des kleinbürgerlichen Lebens und den altbiblisch“
Sit“. In Theaterkreisen freilich erzählt man sich,
Traditionen hinsichtlich der gesellschaftlichen
s Stück sei gar nicht von Schnitzler, sondern von
ung der Frau. Johanna ist Künstlerin, sozus#
einer verarmten Gouvernante, der er in kindlicher
Vollblut, mit einem Diener Gottes vor Anker, d.
Pietät zu helfen versuchte, indem er das peinlich
sie ist verlobt mit einem Kandidaten der Theologie.
#triviale und sentimentale Werk ein wenig auf¬
der ihr, wiewohl sie flügge ist, das Fliegen ver¬
besserte und mit seinem Namen versah. Der Er¬
wehren will. Das der Konflikt. Dem Drama aber
folg war jedenfalls, dass sich die Direktoren dar¬
fehlt es an Konturen, und es gehört zu den vielen
1 nach rissen. Wie dem auch sei, ich selbst möchte
modernen Stücken, die durch Stimmung erseizen
die Version nicht einmal für recht wahrscheinlich
wollen, was ihnen an Handlung fehlt. Es giebt ein
halten, das Stück taugt nichts, ob es nun Schnitzler
äusserliches und ein innerliches Drama, das äusser¬
oder seine Gouvernante sich abgerungen hat, ob
liche aber ist immer wo anders, als wo das inner¬
es ein Jugend- oder ein Nachwerk ist. Bis auf eine
liche ist, und das äusserliche ist es, welches schliess¬
Rolle, die mit viel Laune und guter Menschen¬
lich dem innerlichen das Wort abschneidet.?)
kenntnis gezeichnete Figur des Professors Losatti
Fin Stück, das die Geister bewegt, ist auch von
Hjalmar Ekdal ins Wienerische übersetzt — da¬
deutschen Dramatikern noch nicht in diesem Jahre
von indes abgesehen, — der Moralphiliströsität ganzer
ans Licht der Lampen gebracht. Ein geschichtes,
lammer packt Einen an. Unwahr das Problem: des
aber nicht erfreuliches Schauspiel ist die durch das
Professors Sohn stirbt plötzlich und hinterlässt seiner
„Litterarische Vermittlungsbüreau“ in Hamburg 1892
Familie als Vermächtnis einen unehelichen Jungen
preisgekrönte „Olle“ von Friedrich Gustav
und eine Geliebte, mit der er in Treue und Züch¬
Triesch. Ein gequältes Motiv (die Schuld der
ten gelebt wie mit einem rechtmässig angetrauten
Weibe. Und darüber der Zank und die Aufregung
Mutter), peinliche Szenen und eine Dramatik, die
aus Romanen ebgezogen ist, sozusagen die Abstrak¬
in der Familie, erst um das Kind, dann um die
tion aufregender Romanszenen: der typische Irrtum
Mutter. Und dann stirbt das Kind, und dann wie¬
der modernen Dramatiker über das eigentlich
der der Zank um die Mutter. Erstens, weil sich
Dramatische. — Diesem aber kommen die richtigen
das nicht schickt, zweitens, was die Leute dazu
Theatermänner viel näher; z. B. Felix Philippi,
sagen werden, und drittens, weil man es überhaupt
dieser aktuelle Dramatiker, dessen Muse der Zeit¬
gar nicht nötig hat, für sie zu sorgen. Die Triviali¬
tät der Reden und Repliken ist ordentlich peinigend.
skandal ist. Er hat den Aerzte - Streit um Kaiser
Friedrich zu einem Drama verarbeitet. Sein neuestes
Das ganze eine kontinuierliche menschliche und
künstlerische Taktlosigkeit. Ungeschickt ist auch
Schauspiel „Das Erbe“ behlandelt den Fall Bis¬
marck im Königreich Stumm, angeschossen von den
die Technik: Das Thema auf drei Tellern serviert
(drei Akte). Dieses technische Unvermögen hat
wahrscheinlich das Gerücht veranlasst, dass Schnitz¬
1 Stuttgart, Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhdlg. Nachfl.
ler, der doch schon tüchtige Proben dramatischer
9 München, Leipzig, Paris. Verlag von A. Langen.