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Das Vernaechtnis
Der wahre Dichter ist objectiv, der Tendenzklitterer Gesellschaft zu Schanden werden mußte; endlich geht die
urgtheater. Pestdel
üß.“ Schauspiel in drei Acten von Arthur färbt sich die Dinge, wie er sie braucht. Gesetzt, die Mutter freiwillig in den Tod, dieselbe Mutter, die zwar
sogenannte Gesellschaft sei pauschaliter als wahre den Verlust der beiden theuersten Wesen überdauert hat,
Aufführung am 30. November 1898.)
aber just die schlechte Behandlung der bürgerlichen Sipp¬
Schwefelbande zu betrachten: folgt daraus wirklich, daß
ängt an, langweilig zu werden. Die
schaft nicht verwinden kann. Eine Tragödie der über¬
man der verehrten Gegenseite das Roth der Gesundheit
=Lyrik, die sich als Dramatik aus¬
auf die Wange schminken muß? Wenn man Herrn flüssigen Creppverschwendung! Schwarze Kleider auf der
pgische Form gebracht ist, will nicht
Schnitzler glauben dürfte, sitzen die „süßen Mädels“] Bühne, schwarze Gedanken im Publicum, schwarze Bosheit
Moral, die sich gegen die bürger¬
ruhig und ahnungslos hinter den Geranienstöcken ihrer bei dem Kritiker! Wie, wenn das wilde Liebespaar
in Fechterpositur stellt, will auch
nicht blos ein Kind, sondern vier Kinder gehabt, wenn
sithern nicht mehr behagen. Nur die Fenster und nähen oder flicken so lange, bis ein capita¬
der junge Lebemann seiner Familie ein fünffaches Legat
Alles bejubeln, was sich als radical listisch wohlfundirter Bösewicht des Weges kommt und
hinterlassen hätte! Dann hätte Herr Schnitzler am Ende
ch auf den Leim, wenn ihnen eine sich auf seine Beute stürzt. Mit Verlaub: so ro¬
sechs Acte mit sechs Sterbefällen geschrieben, dann hätten
mantisch geht's in der Regel doch nicht zu.
Esetzt wird; den Anderen ist
die beiden Raisonneure seines Stückes immer wieder die
Es gibt unter den Menschen Falken und Tauben;
jere „Vorkämpfer“ in ihrer einmal
veränderte Situation beleuchtet, immer wieder neue Per¬
aber so einfach ornithologisch ist das Leben nicht ein¬
erstarrt seien und gar nicht mehr
mutationen des arithmetischen Problems gefunden, dann
gerichtet, daß es nur Falken und Tauben gibt. Anderes
sen.
Geflügel flattert auch herum, und zwar auf beiden wäre das „Mutter=Mädel“ ratenweise abgeschlachtet
Arthur Schnitzler's gleicht einem
Seiten. Das weiß und fühlt der Dichter, der — im worden, von einer Gesellschaft, die ihre Grausamkeit mit
und das
riationen“. „Anatol“
strengsten Sinne des Wortes — ein Seher ist: der der Reducirung des illegitimen Nachwuchses steigert. Wohl
plutokratische Müßiggänger und
Macher will es nicht wissen und nicht fühlen, weil die uns, daß sich der verblichene Cavallerist mit dem Sin¬
hmphe, haben eine „Liebelei“ ihr
gular begnügt hat!
ruhige Klarheit seine künstlichen Constructionen stört.
3 Basis für die unbedingt nöthige
Das Aeußerste, wozu sich seine dramatische Geometrie
Die umständliche Replik und Duplik der beiden
Gesellschaft, die einzig und allein
entschließt, ist eine falsche Schattenlehre: die gesellschaft¬
letzten Acte — der erste ist besser gearbeitet und hat
ziner heuchlerischen Convenienz steht
liche Ordnung capitulirt vor dem neuen Geiste und
seine eigene Stimmung — gipfelt in der Brandrede eines
ssittlichkeit hinter der Maske einer
plaidirt selbst für eine laxe Auffassung, die ihr den
jungen Mädchens, das nicht zu den Gefallenen, sondern
shau getragenen Ehrbarkeit ver¬
Garaus macht; das „süße Mädel“ aber hat eine Sehn¬
zu den Tugendprotzen der gegeißelten Gesellschaft zählt,
t der Vertreter einer Kaste,
sucht nach bürgerlicher Ehrbarkeit und möchte die Zigeuner¬
aber dabei die unwahrscheinliche Liebenswürdigkeit be¬
Rischen Vergnügungssucht rücksichtslos
wirthschaft mit dem häuslichen Herde vertauschen.
sitzt, sich für die Moral der Gegenseite, das heißt für
ad die Armen ihrer Pein überläßt,
die Moral des Herrn Schnitzler zu erhitzen. Dieses
In seinem „Vermächtniß“ thut der Autor das
geworden sind, „schuldig“ im Sinne
Mädchen schreit, im Innersten empört, die Tendenz des
Möglichste, um das arme, beave Opferlamm zum Gegen¬
al; das „süße Mädel“ zählt — im
Stückes ihren Angehörigen ins Gesicht und schließt mit
stande des tiefsten Mitleids zu machen; er zieht einen
Itiquirten Moral — zu den „Ge¬
den Worten: „Was einen guten Mann so glücklich macht
Haher — schon nach dem Gesetze des Trauerflor über sein ganzes Stück und etablirt sich
(wie die „freie Liebe'), das kann nicht die Sünde sein.“
nder neuen Moral rehabilitirt förmlich als Conductansager. So viel Acte, so viel
Ich bezweifle zwar, daß das nächste beste junge Mädchen
seiden Gestalten dreht sich die Muse Todesfälle. Zuerst stirbt der Liebhaber, der in vier langen
hinreichend legitimirt ist, um zu entscheiden, was Sünde
in engem Cirkeltanz, und ihre Jahren keine Zeit gefunden hat, seine Maitresse zu
st darin, aus Schwarz Weiß und aus legitimiren, aber sie und das Kind gnädigst der Familie sei und was nicht, ja es will mir sogar scheinen, daß
testirt; dann stirbt das Kind, an dem die Barbarei der selbst Herr Arthur Schnitzler in dieser Frage der
achen.