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10. Das Vernaechtnis
Vom Burgtheater. 4
(„Das Vermächtnis“ von Arthur Schnitzler. Schauspiel in drei Acten.
Erste Aufführung am 30. November 1898.)
Ein junger Mensch, der Sohn des Professors und Ab¬
geordneten Losatti stürzt bei einem Spazierritt im Prater vom
Pferde. Er wird sterbend nach Hause gebracht. In seiner Todes¬
stunde vertraut er den Eltern sein Geheimnis au: er hat eine
Geliebte und ist Vater eines Kindes. Sein Vermächtnis ist die
abgeht, nimmt seinen Stoffen die Größe und die Tusel
Schnitzler ist ein sentimentaler Liebhaber des Lebens. Die
Träumerei eines fliederdurchduftenden Sommerabends liegt über
dem, was er ersinnt. Ein mildes Dämmerlicht umfließt seine
Menschen und nimmt den Contouren die Härte. Seine Werke
sind Pastelle. Und er weiß mit dem Wischer umzugehen und
aus verschwimmenden Tönen Effecte zu locken. Am liebsten
zeigt er uns auch die Liebe im Dämmerlichte. Wir erfahren
wenig von der Liebe Hugos zu Toni. Aber nun sehen wir
Toni und ihr Kind im Hause der Losatti. Wie eine Wolke
lastet das Dasein des armen Mädchens über der sittsamen
Familie. Eigentlich duldet man sie blos des Kindes wegen
und als dieses stirbt, jagt man sie grausam aus dem Hause —
in den Tod. Das Schicksal Christknens ist auch das Schicksal Tonis.
Vortrefflich sind alle diese Menschen gezeichnet: die Mutter
Hugos, eine schwache Frau mit einem guten Kern; der Vater,
ein schwacher Mann mit einem schwachen Kern oder besser
gesagt, mit gar keinem Kern, ein Poseur, einer jener Comö¬
dianten des Lebens, die im Rampenlichte ihre Gefühle vor sich
selbst agiren, um sich selbst dann Bravo rufen zu können — es
ist ein feiner Witz Schnitzler's, daß er Herrn Losatti zum
liberalen Abgeordneten macht; die brave Schwester Hugos, Franzi,
ein Mädchen mit stillen Gefühlen im starken Herzen, die einzige,
die tapfer auf Tonis Seite sich stellt, die einzige, die ihres
Bruders Vermächtnis erfüllt, das Vermächtuks der Liebe; der
Hausarzt Dr. Schmidt, ein kalter, grausamer Mann, ein
moralischer Parvenn mit der Engherzigkeit des Menschen, der
sich aus niederem Kreis in die höhere Sphäre schwer empor¬
gearbeitet hat. Jede Nebenfigur hat ihr individuelles Leben.
Mit jedem neuen Werke wächst Schnitzler's Kunst der
Beobachtung und Zeichnung. Mit jedem neuen Werke wächst
seine Beherrschung der Technik. Wie weiß er Alles vorzubereiten,
wie zwanglos bewegt er seine Figuren, wie klug stellt er die Scenen!
Und trotz dieser virtuosen, raffinirten Technik der Details
krankt sein Stück unheilbar an technischen Fehlern der Compo¬
sition. Der Parallelismus der Actschlüsse nimmt diesen ihre
Wirkung: am Ende des ersten Actes stirbt Hugo, am Ende des
zweiten das Kind, am Ende des dritten geht Toni in einen
ungewissen Tod. Wie bei einem guten Bilde müssen auch in
einem Stücke die Linien der Handlung convergirend laufen.
Im „Vermächtnis“ laufen die Linien divergirend aus dem
Bilde heraus. Jeder Act hat seinen eigenen Mittelpunkt und
das Stück hat keinen. Der Dichter holt dreimal tief Athem
aber er sagt uns nichts. Das schöne Wort Franzis, daß un¬
möglich Sünde sein könne, was einen guten Mann glücklich gemacht,
ein Wort, das im Publicum jubelnden Beifall fand, ist ein
treffliches Aper### #er um seinetwillen wurde das Stück nicht
geschrieben, noch dacht. Es ist einernge Welt, in die der Dichter
uns führt und den Blick in die W##te versagt er uns. Sein
Stück hat den Fehler aller negativen Dramen. Ich verstehe
darunter jene Dramen, deren Handlung darin besteht, daß etwas
nicht geschieht. Toni wird von der Familie, dem Vermächtnis
des Sterbenden entgegen, nicht resorbirt. Und den negativen?
Dramen geht es wie den passiven Menschen, die darin spielen
sie rühren uns vielleicht, aber sie ergreifen uns nicht, wir
sind traurig ob ihres Schicksals, aber die tragische Stimmung
bleibt aus. Denn zur Tragik gehört Kampf, gehört Empörung,
gehört Action im besten Sinne des Wortes. Jede Tragik bejaht
das Leben und wenn das Leben auch darin zu Grunde geht.
Schwer und traurig lastet die Stimmung des Stückes auf
dem Hörer. Wie ein Alp liegt sie auf ihm. Das lösende Wort
bleibt aus. Und wenn man, um sich selbst von dem jammer¬
vollen Banne zu befreien, dem Conflicte nachgeht, so findet man,
daß er so, wie er uns hier dargestellt wird, gar keine Lösung
zuläßt. Wir sind in einer Sackgasse. Wir fühlen das bittere
Unrecht, das der armen Toni widerfährt und verstehen anderer¬
seits, daß jetzt ihres Bleibens doch nicht länger im Hause Losatti's
ist. Die Gründe, die für ihre Entfernung schließlich vorgebracht
werden, sprechen die Menschen auf der Bühne hart und un¬
sympathisch aus — aber sie haben ihre Berechtigung! Der
Dichter hätte eben die Situation anders gestakten müssen, um
ihnen die Berechtigung zu nehmen.
Nach langer Zeit gab es endlich wieder eine gute Vor¬
stellung im Burgtheater. Frau Schmittlein (Frau Losatti)
und Frau Hohenfels (Franzi) standen siegreich im ersten
Treffen. Herr Treßler (Hugo), Herr Devrient (Dr. Schmidt),
Herr Hartmann (Losatti) waren die Menschen des Dichters.
Bei aller Anerkennung der Leistung der Frau Schratt (Toni)
wäre uns Frl. Medelsky in dieser Rolle lieber gewesen.;