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10. Das Vernaechtn—
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Theater=Notizbuch.
Theater=Notigbuch.
(„Das Vermächtnis.“ Schauspiel in 3 Aufzügen von Arthur Schnitzler. Zum
erstenmale aufgeführt am k. k. Hofburgtheater am 30. November 1898.)
Arthur Schnitzler muß neben allem Schönen eines großen Erfolges, wie es der
seiner berühmten „Liebelei“ war, auch sein Bitteres erfahren: er wird etiquettirt, registrirt
und ruhrizirt und die alte Marke wird auch dem neuen und anderen Wein künstlich auf¬
geklebte die Schlagworte vom „süßen Mädel“, vom „Wiener Lebemann“ und von „freier
Liebe“ werden mit verdrießlicher Hartnäckigkeit auch auf jene Dichtungen Schnitzlers an¬
gewandt, für die jene Begriffe innerlich gar nicht mehr in Betracht kommen und besonders
*Him „Vermächtnis“, dem gehaltvollsten Werk des zu immer schönerer Menschlichkeit heran¬
reifenden Dichters wurden mit Verkennung des Wesentlichen Tendenzen erörtert, die mit
dem wahren Kern des Dramas nur in ganz losem und vielleicht sogar entbehrlichen
Zusammenhang stehen und bloß eine allerdings wirksame Verstärkung des dramatischen
Resonanzbodens zu bedeuten haben. Der äußerliche Vorgang ist einfach: der „liberale“
Abgeordnete Prof. Losatti, ein innerlich hohler und eitler, aber gutmütiger Mensch mit
steter Neigung zur schönen Pose, zur Schaustellung rührender Gruppen aus seinem
Familienleben und zur bengalischen Beleuchtung seiner ohnedies so „edlen" Gefühle, hat
einen Sohn, der bei der Kavallerie gedient hat und durch die dabei großgezogene Reiter¬
passion sein Leben einbüßt: er stürzt vom Pferde und hat vor seinem jähen Tode nur
noch Zeit, sein Kind und dessen Mutter, die er von dem Buben nicht trennen kann und
die er gewiß sofort bei erlangter Unabhängigkeit zu seiner Frau gemacht hätte, den Seinen
aus Herz zu legen; sie müssen beide bei sich aufnehmen und für sie sorgen, als wenn
Toni Weber wirklich nach bürgerlichen Begriffen Hugo Losattis Gemahlin gewesen wäre,
- und für ihn war sie auch nichts anderes. Wie die Familie Losatti dieses Vermächtnis
erfüllt, erst gerne trotz mauch innerlichen Widerstrebens, wie Hugos Kind das Band
bildet, das all diese Menschen aneinanderkettet, und wie das Kind stirbt und damit das
Band zerrissen wird, und Toni Weber hinausgewiesen und mit einer materiellen Unter¬
stützung abgesunden werden soll und das nicht erträgt und in den Tod geht, — das erzählen
die von Wärme und Vornehmheit überströmenden Szenen der Schlußakte. Wenn im „Ver¬
mächtnis“ etwas gezeigt werden soll, so sind es traurige Fragen, die angeschlagen werden:
wie fremd sich Menschen sein können, die einander durch die Bande des Blutes die
„Nächsten“ sind, wie wenig oft Eltern von ihren Kindern, Schwestern von Brüdern
wissen, bis der Augenblick kommt, der es zeigt, wie äußerlich nah und innerlich fern
man ein Leben lang nebeneinander hergehen mag; wie es bei allem besten Willen schwer,
oder gar unmöglich ist, ohne Selbstbeirug oder Selbstverleugnung Grenzen zu durch¬
4 brechen, die Menschen scheiden, die infolge ihrer verschiedenen Miliens einander ganz
Mn
unverständliche Sprachen sprechen und sich nie verstehen werden Jaß die kritischen Losattis
in dem Stück nichts anderes finden tonnten, als die „laxe Moral“ in der Verteidigung
der „freien Liebe“ ist bezeichnend. Toni Weber könnte ebensogut die legitime Schwieger¬
tochter des Professors Losattis sein: an ihrem Verhältnis zu der Familie des verstorbenen
Mannes würde sich vom Augenblicke des Todes ihres Buben an nichts anderes gestalten,
als es hier dargestellt ist; wenn auch dann vielleicht aus, gesellschaftlichen Rücksichten
kein derartig rapider und brutaler Bruch stattfinden würde, ## hinausgewiesen würde Toni
doch, — selbst dann, wenn sie bleiben durfte. Daß der Dichter in seinen schlicht ein¬
dringlichen und gerade deshalb so stark an jede Seele pochenden Worten, die echte Menschlich¬
keit und wahre Vorurteilslosigkeit verkündet auch nebenbei gegen vieles streitet, was
Bequemlichkeit und falsche Moral gegen die ethischen Seiten illegitimer Liebe gedankenlos
aufgebaut hat, kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden; ganz abgesehen davon,
daß auch hierdurch eine Erhöhung des dramatischen Ausdrucks und der charakterisirenden
Abgrenzung der einzelnen Empfindungssphären erreicht wird. Wenn im „Vermächtnis“
etwas nicht ganz gelungen ist, so mag es die Gestalt der Toni Weber sein: bei aller
Verschiedenheit von der Familie des Geliebten mußte sie reizvoller und gewinnender er¬
scheinen; und statt Verschlossenheit, Härte und Schroffheit zu zeigen, die als Recht in
Anspruch nimmt, was nur aus Zuneigung geboten werden kann, mußte sie sich denen
gegenüber, die ihr ein neues Heim bieten, bei aller Scheu doch liebenswürdiger, ja selbst
um Liebe werbend, und innerlich wertvoller zeigen, wenn man den Bruch nicht am
Ende verzeihlich und Tonis gewaltsames Festhalten an diesem Heim, inmitten von Leuten,
die sie-selbst abstößt-und denen sie nicht mit innerlichem Gefühl, sondern nur mit
Pietät gegenübersteht, als Verlegenheit fühlen soll, — Das Stück, das bei all seiner
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lastenden Schwere und Düsterkeit einen tiefen und unentrinnbaren Eindruck hinterläßt,
wird glänzend gespielt. Frau Hohenfels, Frl. Medelsky, Frl. Bleibtreu, Frl.
Metzl, Herr Devrient und Herr Römpler brachten jeden feinsten Zug mit Meister¬
schaft zur Geltung. Allen voran aber steht Herr Hartmann mit seiner Darstellung
des Professors Losatti, die vielleicht seine höchste Leistung ist; unübertrefflich in jeder Ge¬
berde, jedem Wort und jeder Nuance, hat diese Leistung nicht nur für den geistvollen
Künstler das Schöne, daß er manche kritischen Richter zwingt, ihm viel Unrecht abzubitten,
sondern das noch viel Schönere für uns, daß hier ein Versprechen vorliegt, dessen Ein¬
lösung bald folgen möge.
R. Sp.
November 1898.
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