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10. Das Vernachnanis
und er kann sie so, dass er ohne Souffleur spielen könnte. Ja, Bruder, Toleranz der Griechen und Römer eigentlich erst in die abend¬
ländische Culturwelt eingeführt. Aber wie stehen die meisten Menschen
freilich, da hört die Concurrenz bei vielen auf. Und darum ist der
in ihrem Innern dieser „Sünde“ gegenüber! Man nehme willkürlich
Mann frei auf der Bühne: er ist frei in der Rede, die er nicht
tausend Männer, um von der heiklen Frage beim weiblichen
zu dehnen und durch immer wiederkehrende Pausen zu zerreißen
Geschlecht nicht zu reden. Nun, wie viele werden unter ihnen sein, die
braucht, um seinen geistigen Bedarf von dem Souffleur stückweis
noch nie „gesündigt“ haben, ja denen das nicht schon ziemlich oft
aufzuschnappen: er ist frei in der Bewegung, weil er nicht genöthigt
widerfahren wäre? Und wie nachsichtig ist die Gesellschaft in der
ist, immerwährend in der Nähe des Souffleurkastens oder der hinter
Richtung — solange nichts herauskommt! Ja aber dann, wenn die
den Coulissen postierten Souffleure herumzutanzen; er ist frei im
Sache offenkundig wird, dann ist alles anders. Dann wird ein
Aufwande an Stimmmitteln, weil er keinen laut mitredenden
kleiner Bruchtheil vielleicht Antheilnahme aussprechen und bethätigen,
Souffleur zu überschreien oder doch zu decken hat. Das Publicum
ein anderer Theil wird sich achselzuckend davonschleichen oder sich
empfindet es wohl unangenehm, wenn es oft ein ganzes Stück zwei¬
dagegen verwahren, dass man gewisse Dinge durch Anerkennung
mal, einmal aus dem Souffleurkasten heraufgezischt und dann auf
„sanctioniere“ und die meisten „Mitsünder“ werden entrüstet ihr
der Bühne zusammengestoppelt genießen muss, aber es ahnt gar
Verdammungsurtheil kundgeben. Das, was uns Schnitzler vorführt,
nicht, welche Macht für den Schauspieler darin liegt, wenn er seine
ist nun nur ein concreter Fall, in dem besondere Umstände zu der
Rolle gleichsam im Schlafe aufsagen kann, und wie wenig von
Aufnahme der aus einer illegitimen Verbindung Hinterbliebenen
dieser Macht manchmal dem Schauspieler zu eigen ist.
in eine widerstrebende Familie geführt haben und besondere Um¬
Als Abschiedsvorstellung hat Kainz den Romeo gespielt. Ueber
stände die lockeren Beziehungen wieder lösen. Man kann auch nicht
zwanzigmal hat man ihn herausgejubelt, als das Stück zu Ende
gegen eine einzelne, sagen wir kleine und nebensächliche Inconsequenz
war. Das ist ja ein Romeo der Seression, hat mir ein geistvoller
in unserer Gesellschaftsordnung sich mit Erfolg, ja nicht einmal mit
Mann gesagt, als die Vorstellung zu Ende war. Vielleicht. Und
Recht auflehnen, wenn man nicht den Muth hat, das ganze System
warum nicht? Wir leben ja doch in der Zeit der Secession, und
zu bei upfen. Und dazu sind die Losattis nicht die richtigen Leute,
ihren Wirkungen können sich auch jene Maler und Bildham nicht
nicht einmal Francisca würde alle Consequenzen hinnehmen. Und
ganz entziehen, die anderswo als in der „Secession“ ausstellen,
so leidet die innere Wirkung des Schnitzler'schen Dramas, so geschickt
ja die sie geradezu bekämpfen. Hoffen wir, dass wir auch bei solchen
es gemacht ist, und so lebenswahre Seenen es enthält, doch unter
Schauspielern Wirkungen dieses Romeo sehen, die diesen Romeo
der Verquickung mit einer Tendenz, zu deren Verarbeitung und
niemals lieben werden.
Durchführung der Apparat des Stückes nicht ausreicht.
Das mit einer gewissen „Plötzlichkeit“ veranstaltete Gastspiel
Einer trefflichen, echt aus dem Leben gegriffenen Figur, in
Kainz hatte die Hinausschiebung der für vorige Woche angesetzt
der die Heuchelei, Eitelkeit, Phrasenhaftigkeit und Schwäche, aus
gewesenen Novität „Das Vermächtnis“ von Schnitzler zur Folge
der sich der Charakter so vieler zusammensetzt, künstlerisch verkörpert
gehabt. Dieses Stück wurde nun letzten Mittwoch gegeben. Das
ist, muss ich aber noch gedenken, des Professors der Nationalöko¬
Publicum hat dem Dichter und den Darstellern lebhaften Beifall
nomie und Abgeordneten Herrn Adolf Losatti. Ja, den Mann
gespendet.
kennen wir alle, wenn auch jeder einen andern meinen mag. Mein
In einem gewissen Sinne ist das Stück ein Tendenzstück. Der
„Losatti“ hat mir einmal anvertrant, er würde herzlich wünschen,
Dichter hat die Tendenz nicht offen ausgesprochen, er hat nur einen
dass sein Sohn der jungen Frau seines alten Freundes mehr den
Zipfel von der Decke aufgehoben, unter der sie liegt, aber das Pu¬
Hof mache: „nichts ist gesünder für einen jungen Menschen, als so
blieum hat sich nicht täuschen lassen und das auf der Gallerie schon
ein solides Verhältnis mit einer Frau.“ Ach ja! Aber würde er zu
gar nicht, und zum Schlusse haben sie von oben jubelnd die Decke
etwaigen Consequenzen freundlich Stellung genommen haben? Ach
heruntergerissen, so dass die „freie Liebe“ sich in völlig unbeklei¬
nein! Was aber unsern Losatti betrifft, so nennt ihn Frau Winter
detem Zustande einem verehrungswürdigen hohen Logen= und Parket¬
einen „Ehrenmann“. In Wien hat man da noch einen erweiterten
publicum präsentierte. „Das Heiraten ist doch nur eine nebensächliche
Ausdruck: „Ein Ehrenmann mit Strupfen.“ Ja, ein Ehrenmann
Formalität und der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Mann
mit Strupfen, das ist Herr Losatti. Prächtig vom Dichter gezeichnet
und Frau ist keine Sünde“. Das ist die These. Freilich, das Stück
und vortrefflich, mit seltener Natürlichkeit von Herrn Hartmann
scheint nur einen einfachen Vorgang zu erzählen. Ein junger Mann
gespielt.
bittet auf dem Todtenbette seine Familie, dass sie seine Geliebte
Ueberhaupt war die Darstellung im wesentlichen eine vor¬
nebst Kind bei sich aufnehme. Das Versprechen wird im ersten
zügliche. Freilich zu Anfang schien die Sache etwas bedenklich und
Act gegeben, im zweiten gehalten, im dritten nach dem Tode des
man gewann den Eindruck, als würde ein Berliner und nicht ein
Kindes gebrochen. In den die Entwickelung begleitenden Erörterungen
Wiener Stück gespielt. Es war sehr gefährlich, das Stück so zu be¬
vertritt ein Theil der Personen des Stuckes die Ansicht, man könne
setzen, dass die einleitenden Seenen Schauspielern mit ausgesprochen
die Geliebte des verstorbenen Sohnes nicht im Hause behalten, das
unwienerischem Accent (Frau Schmittlein und Herrn Paulsen) zu¬
sei ein Faustschlag in das Antlitz der Gesellschaft, eine „Maitresse“
fielen. Da kommen dann die anderen lange nicht von dem falschen
müsse man hassen wie die Sünde; andere wieder finden keinen
Ton los; erst als Frau Schratt mit ihrem elementaren echten
Unterschied, ob sie seine Frau oder seine Geliebte war. Es lassen
Wiener Naturell die Bühne betrat, fanden auch Fräulein Bleibtreu,
sich nun gewiss für das eine und für das andere Gründe anführen,
Fräulein Medelsky und Fräulein Metzl den Heimweg von Berlin
und es werden solche Gründe für und wider auch geltend gemacht.
nach Wien. Noch gefährlicher aber war die Besetzung des Doclor
Aber indem der Dichter jenen Personen, die er sympathisch zu
juris Hugo Losatti mit Herrn Treßler. Zunächst ist Herr Treßler
gestalten bestrebt war, die Vertheidigung der Gleichstellung von
in erster Linie eine komische Kraft, wenn er auch noch anderes kann.
Weib und Geliebter zuweist, jenen aber, die er als abstoßende
Wenn er, statt jugendliche Rollen des komischen Faches zu spielen,
Charaktere gezeichnet hat, die entgegengesetzte Position, hat er
sich als Paris in „Romeo und Julia“ und jetzt wieder in dieser
Partei ergriffen und eben auf eine Tendenz hingearbeitet. Und
Rolle exponieren muss, so fehlt für letzteres auch dann noch die
hat auch er sie nirgends formuliert, so haben das andere für ihn
Erklärung, wenn man begreift, warum er die ersteren Rollen nicht
gethan. Kurz vor dem Schlufs des Stückes sagt Francisca, die
bekommt. Es wird halt da ein ähnlicher Grund obwalten, wie der #
Schwester des Todten, die sich stets liebend seines „Vermächtnisses“

aus welchem man Kainz nicht als Cyrano austreten ließ. Herr##
augenommen hatte: „Was einen Menschen so glücklich macht, kann
Treßler hat sich übrigens sehr anständig aus der Affaire gezogen.
nicht die Sünde sein" Das geht auf die Person, auf die unehe¬
Trotzdem hat das Stück unter dieser Besetzung gelitten. Mit
liche Gattin; eine dröhnende' Beifallssalve von der Gallerie aber
26 Jahren gibt der Dichter selbst das Alter Hugos an; er hat ein
bewies, dass man es auf die Sache bezog. Und ich glaube, man
vierjähriges Kind und wird von seinem Vater verdächtigt, früher
hat damit so ziemlich das Richtige getroffen. Freilich heiß es im
ein Verhältnis mit seiner um zehn Jahre älteren Tante unter¬
Buchtext: „Was einen guten Menschen so glücklich macht aber
halten zu haben (wie mag dieser Gedanke Papa Losatti immer
auf der Bühne gilt nur das gesprochene, nicht das geschriebene
erfreut haben!). Wenn wir da nicht einen gereiften jungen Mann
Wort und die Darstellerin der Francisca hat wohl mit Recht em¬
vor uns sehen, wird das Peinliche der Situation überflüssigerweise
pfunden, dass „gut“ ober „nicht gut“ hier nicht mehr in Frage kommt.
erhöht. Herr Treßler sieht — glücklicherweise auf der Bühne
Menschen werden selten durch Tendenzstücke bekehrt und
selbst noch aus wie ein Kind; wenn er der Mutter gesteht: „ich
so fehlte es nicht an Leuten, die auch während und nach der Vor¬
habe ein Kind“, denken wir uns unwillkürlich, er hätte doch noch
stellung noch der Ansicht blieben, es sei doch besser, wenn man die
ein Bissel warten können.
frühere Geliebte des Sohnes nicht in die Familie aufnehme oder
Frau Schratt in der weiblichen Hauptrolle hatte wieder Ge¬
sie wenigstens bei guter Gelegenheit wieder höflich entferne. Und
legenheit, zu zeigen, wie sie, wenn sie sich unseres kernigen heimat¬
diese Leute wurden auch durch den vermuthlichen Selbstmord der
lichen Dialeets bedienen kann, auch tiefgehende tragische Wirkungen
Verstoßenen nicht irre gemacht, denn den konnte ja eigentlich niemand
zu erzielen vermag, während Frau Hohenfels in der nicht ganz
erwarten: hat Toni Weber den Tod des Geliebten, den Tod des
ungefährlichen Rolle der Francisca mit vollendeter Sicherheit alle
Kindes ertragen, so wird sie doch, sollte man meinen, auch noch
Klippen vermied, die da der Darstellerin und dem Stücke drohen.
die Trennung von der Familie Losatti überleben! Der Dichter hat
Sehr gut waren auch die meisten anderen der Darsteller. Moderne
ja in einem zweifellos Recht: es liegt etwas Verlogenes in unseren
Stücke werden im Burgtheater schon seit Jahren viel besser gespielt
socialen Zuständen, insbesondere insoferne es sich um den Geschlechts¬
als classische.
verkehr handelt. Das Christenthum hat den Begriff der „Sünde“
Max Burckhard.
für den außerehelichen Geschlechtsverkehr gegenüber der weitgehenden