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Der
Fruene
Kakadu
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Berliner Börsen-Curler
1 0. Aug 192.
Theater
uned Ranssik
Bühnenprobe. Im Mittelpunkt: schöpferische und
Von Schnitzler über Scholz
reproduzierende Künstler. Ausgang der Hand¬
lung: bei 1 und 2 tragisch, bei 3 die eigentümliche
zu Pirandello.
Mischung aus Lächerlichkeit und Tragik. Bei
Von
allen dreien hat die Idee selbstschöpferisch die
adäquate Form erzwungen; durchaus neuartig,
N. Stollber &.
nicht ohne Tradition. Gemeinsamkeit der Technik
Die Zeitungen berichten: Ein Mann wurde
ist die wiederholte Zäsur: Transmissionen, bei
aufgegriffen, der sein Gedächtnis verloren hatte.
denen der motorische Antrieb aus der irrealen in
Vorausgesetzt, daß sein Verstand nicht dabei ge¬
die reale Welt umgeschaltet wird. Oder mathe¬
blieben und vorausgesetzt, daß er einen besessen,
matisch ausgedrückt: Schnittpunkte des Koordi¬
konnte dieser Mann eines der merkwürdigsten
natensystems. Die Parabel, aus dem Unend¬
Weltwunder werden. Kraft seines unvorbestraf¬
lichen herkommend, betritt bei Y. die Endlichkeit,
ten Gehirnes war er imstande, die Eindrücke
um bei X. wieder zu verschwinden. Gemeinsam
unserer Zeit, denen wir rat= und fassungslos
ist ferner der feste Griff fürs Theaterhafte —
gegenüberstehen, triebhaft und ursprünglich auf¬
nicht schlechtweg mit dem Theatralischen identisch.
zunehmen. Vielleicht gab uns sein Beispiel auch
III.
den Mut, frisch=fröhlich allen Ballast an „Ver¬
drängungen“ über Bord zu wersen und in eine
Im modernen Menschen stirbt langsam, aber
1E1
neue Zeit hineinzuschreiten. Denn noch quälen
sicher das Gefühl für das Wirtrahe ab. Tagtäg¬
infl
wir uns — die Frage nach dem substantiellen
lich hören wir die unwirtlichen Geräusche der
Kern des Schicksals ist das dramatische Problem
Großstadt. Wir leben zwischen Ungetümen, die
par excellence geworden.
wahr oder eingebildet, jeden Augenblick unseren
Lebensfaden zu packen drohen —, der mächtige
Autokühler, der dort auf uns zukommt, ist er
Ich setze hier den Inhalt dreier Stücke im
vielleicht der Alpdruck aus vergangener Nacht,
Telegrammstil nebeneinander.
weil wir mit vollem Magen zu Bette gingen?
Schnitzler: In der Schenke „Zum grünen
Oder war es nur ein Traum, daß wir die
Kakadu“ veranstaltet der Wirt, verkrachter Thea¬
zornigen Bullaugen zweier Scheinwerfer so
terdirektor, Liebhaberaufführungen: improvisierte
drohend nah über uns erblickten daß im nächsten
Räuber= und Spektakelstücke. Sein Hauptakteur
Augenblick die Räder über unseren Leib gehen
gibt eines Abends eine Genreszene zum besten,
müssen? (Im Augenblick des Todes haben wir
deren Inhalt ist, daß er soeben den Galan seiner
Visionen, was ist später davon wirklich?) Raum
Frau ermordet hat. Hingerissen von dem Realis¬
und Zeit sind blasse Schemen geworden. Unsere
mus des Schauspielers, unterstellen die Zuhörer
Gedanken schwirren dem fahrenden Zuge vor¬
die Handlung als wahr und gestehen, daß sie um
aus und ehe wir selbst unseren Bestimmungsort
den wirklichen Betrug der Frau wissen. In
erreichen, haben sie sich in tausendfältige Wir¬
diesem Augenblick betritt der wirkliche un ch
kungen umgesetzt. Das Luftschiff, das zwei Kon¬
tinente märchenhaft überbrückend mitten zwischen
nur geglaubte Liebhaber den Saal und wir on
beiden die Grüße des einen und die Hoffnungen
dem empörten Mann erstochen.
des anderen empfängt, der Matrose, dem über
Schölz: Der Dichter gestaltet in einem
dem Weltmeer schwebend die Stimme seiner
Roman unbewußt das Erlebnis seiner Frau mit
Frau leibhaft entgegenschallt: leben sie nicht ein
einem verlassenen Freund. Dieser erfährt bruch¬
doppeltes, ein dreifaches Leben?...
Wir sitzen
stückweise davon in einer öffentlichen Vorlesung;
im Zimmer und nehmen teil an Vorgängen, zu
meldet sich inkognito und verlangt sein weiteres
denen wir in keiner Beziehung stehen. Wir er¬
(projektiertes) Schicksal zu wissen. Nun entspinnt
schauen im Film Gegenden und Räume, die
sich ein Wettlauf der wirklichen mit der erdichte¬
unser Fuß nie betreten. Tausend und aber
ten Gestalt. Durch parallele Ereignisse erfährt
Tausend unmittelbare Eindrücke nimmt unser
der Dichter schließlich, daß es sich um seine eigene
Hirn auf, ohne sie gelebt zu haben. — Der durch¬
Frau handelt und zwingt dem früheren Lieb¬
schnittliche Mensch verliert sich selber und endet
haber — auf dem Umwege eines provozierten
im Sanatorium. Im Künstler dagegen ballt
— den Re¬
Befreiungsversuches von der Kette
sich das Wahngefühl, bis es (Expressionismus!)
volver in die Hand.
zur reinigenden und befreienden Entladung
Der Inhalt des dritten Stückes darf trotz des
kommt. Das Gefühl der Unwirklichkeit, das sich
kurzen Gedächtnisses des Großstädters als noch
wie die Gehirnpest verbreitend Morde und Ver¬
bekannt vorausgesetzt werden. Zu erfragen: in
brechen zeugt — heute begeht man eine Tat, die
Berlin, am Kurfürstendamm.
einem morgen als unwirklich erscheint
ist
Es ist merkwürdig und interessant, daß drei
eines der wesenhaftesten Gefühle der Zeit: was
hervorragende moderne Theaterautoren in ihren
Wunder, daß unsere wesentlichsten Dichter es
wertvollen und erfolgreichen Stücken den glei¬
immer und immer wieder gestalten.
chen Vorwurf wählen: Kunst ist Leben; Leben
IV.
ist Kunst — Trug, Traum, Täuschung... Es bleibt
der Grund, festzustellen und zu untersuchen, in¬
Die Zeitungen berichten, daß jener Mann
wiefern der einheitliche Grundgedanke durch das
sein Gedachtnis wiedergefunden hat: es war ein
verschiedenartige künstlerische Medium — Tem¬
vorbestrafter Dieb, der mit einer großen Summe
perament und Phantasie — gesehen, verändert
flüchtig gegangen. —
wird.
II.
Zunächst die Gemeinsamkeiten. Einheit des
Ortes: Schenke — Zimmen —, die dunkle Buhne
Fast Einheit der Zeit. Ein Abend, drei aufein¬
während einer Bühnen¬
anderfolgende Tage —
probe. (Die außerhalb stattfindenden Vorgänge
sind projiziert zu denken.) Parallel dazu die ge¬
drängte Aufführungszeit: Einakter — zwei und
drei Stunden. Der Personenkreis von vornher¬
— Er, die
ein feststehend: Besucher der Schenke
„Frau und der Dichter
Angehörige der