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9.4. Dergruene Kakadnzyklus
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Ein neues Unternehmen, die „Gesell¬
insel. Trefflich auch ist die Gegenüber¬
schaft für dramatische Auffüh¬
stellung zweier Frauencharaktere, des
rungen im Theater der Urania“
kühlen, klaren, tugendfesten, ganz von
(konnte man keinen weniger holperigen
Wille und Verstand beherrschten „Hans“
Namen wählen?) führte sich gut ein
und der liebedurstigen, anschmiegenden,
mit einer Einakter=Matinee von Paul
ganz den Gefühlen hingegebenen Anna.
Ernst. Der Dichter erregte voriges
Aber beim Konflikt zwischen beiden
Jahr mit seiner „Lumpenbagasch“ ein
Frauennaturen, die um denselben
gewisses Aufsehen. Seine neuen Stücke
Mann, den Vater der einen, den Ge¬
beweisen, daß er keine Eintagsfliege
liebten der andern, ringen, versagt
ist, sondern ein starkes Talent, von
Dreyer. Er läßt „Hans“ sich verlieben
dem man noch Besseres erwarten kann.
und vor der eigenen Liebe ihre Grund¬
Er ist vielseitig. Gerade darum tastet
sätze hinschmelzen und ihren Charakter
er nach etwas. Von seinen drei Ein¬
sich umwandeln. Er gehört eben nicht
aktern ist der eine, „Die schnelle Ver¬
zu den Leuten, die etwas wagen.
lobung“ ein äußerst wirksamer
Darum geht er jedem Konflikt aus
Schwank, frisch und keck hingeworfen,
dem Wege, auf die Gefahr hin, banal
mit ein ganz klein wenig Satire ver¬
zu werden. Sein „Hans“ ist unzweifel¬
brämt, aber ohne Individualität. Seinet¬
haft „sehr nett“. Aber das besagt am
wegen würde ich Paul Ernst an dieser
Ende nicht den Inbegriff der Anerken¬
Stelle gar nicht erwähnen. Viel be¬
nung, die sich ein wirklicher Dichter
deutsamer ist die, ja, wie soll ich sagen,
wünschen müßte.
Melancholie „Wenn die Blätter fallen“
Viel ernster kam uns Arthur
Ein schönes, schwindsüchtiges Mädchen
Schnitzler mit seinen drei Einaktern.
verzichtet auf den jungen Mann, den
Der „Paracelsus“ ist nicht mehr als
sie liebt, um ein frisches junges Ding
eine geistreiche Plauderei. Die „Ge¬
mit ihm zu beglücken. Sie wendet ihre
fährtin“ enthält einen wundervoll ge¬
Liebe scheinbar einem andern jungen
zeichneten Charakter. Professor Pilgram
Manne zu, der sie anbetet. Sie weiß,
ist ein älterer Gelehrter. Ein Jahr
daß er unheilbar herzkrank ist. Er
hat er mit seiner jungen Gattin Liebes¬
weißes nicht. Einen wärmenden, leuch¬
lust genossen, dann kam, was nach
tenden Sonnenstrahl wirft ihr Liebes¬
seiner Ansicht kommen mußte. Sie
geständnis auf seine karg bemessenen
liebt einen jüngeren Mann. Er sieht
Tage. Aber zuletzt merkt er, daß sie
es ruhig mit an; jenseits von Liebe
nur Illusionen in ihm geweckt hat.
und Haß, die Verkörperung des „tout
Ein Hauch Maeterlinckschen Geistes
comprendre c’est tout pardonner“
weht durch das Stück. Zwischen den
sträubt er sich nicht gegen das, was
Worten liegt die Hauptsache. Nur ein
ihm natürlich erscheint. Er verdenkt es
wirklicher Dichter kann so schreiben.
ihr gar nicht. Es ist ihm gleichgiltig,
Im schroffen Gegensatz zu dieser weh¬
und sie ist ihm gleichgiltig geworden.
mütigen Stimmungsmalerei steht „Im
Wieder, wie zuvor, lebt er nur der
(lies: in der) Chambre séparée“ ein
Wissenschaft. Erst die Entdeckung, die
Ausschnitt aus dem Berliner Leben,
er am Tage ihres Begräbnisses macht,
wie er in so krassen Farben noch auf
daß sie nicht die Geliebte eines andern,
keiner Bühne gebracht worden ist: das
sondern seine Dirne war, bringt ihn
Laster zeigt sich nackt. Der Beobach¬
aus seinem philosophischen Gleichmut
tungsgabe des Verfassers macht die
heraus. Aber auch nur auf einen
Studie Ehre.
Augenblick. Die einzige Schwäche des
Von den großen Bühnen hat das
Stückes besteht darin, daß man sich
Deutsche Theater, wie üblich, die
nicht recht denken kann, wie dem Pro¬
größten Triumphe gefeiert, an denen
fessor in seiner siebenjährigen Ehe die
freilich, wie gleichfalls üblich, die Dar¬
Dirnennatur des Weibes entgangen
stellung mit mindestens 50% beteiligt
sein sollte. Ohne jede Einschrankung
ist. „Hans“ von Max Dreyer war
kann ich den „Grünen Kakadu“ loben.
ein unbestrittener Erfolg. Mir scheint
Es ist am Tage des Bastillensturms
es das reifste unter seinen Stücken;
in Paris. Niemand kennt den Ernst
außerdem freilich ein Beweis dafür,
der Lage, aber man ahnt ihn. Im
daß wir Max Dreyer wohl leider
Keller Prospères, eines Galgenstricks
endgiltig unter die Rubrik „gute Mittel¬
von Wirt, führen Schauspieler Ver¬
sorte“ einordnen müssen. Trefflich ist
brecherszenen auf und bringen damit
das Milieu geschildert, eine biologische
übersättigte Aristokraten und Aristo¬
Station auf einer einsamen Nordsee= kratinnen in ein wollüstiges Gruseln.
1. Juniheft 1899