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Liebe
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5ochch eingig nur Form gewordener
Typus einer Volksart. Denn Christine gehört zu der
großen, weitverzweigten Familie jener Gestalten, die die
Persönlichkeitsmarke eines Schöpferischen krönt. Nicht
anders als mit Familienähnlichkeiten ist ja die Wesens¬
erinnerung zu kennzeichnen, mit der Natur irgendwie
Menschen oft verbindet, über Grenzen von Zeit und Raum
hinweg. So ruht auch der Kreis eines schöpferischen
Lebensgestalters in dunklen Verbundenheiten verstrickt.
Oft eine Geste nur ein Laut, der Schimmer eines Blickes
weckt dieses mystische Gefühl tiefer Urverwandtheit.
Vielleicht sind Vorstellungen, aus der bildenden Kunst
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geholt, hier leichter begrifflich. Man denke nur an
Lionardos Frauentypus, um diese höhere Gemeinsamkeit
in der reichsten Vielart zu schauen. Oder an die Herrlich¬
keiten, aus welchen Klimt anbetend der Tausendfältigkeit!
der Weiblichkeit immer doch seines Ideals Gnadentum
verlieh. Das einfache Vorstadtmädel, Tochter eines
Musikanten aus der Josesstadt, bleibt irgendwie den
Geschöpfen der Kompliziertheit und der Dämonie ver¬
wandt, denen Artur Schnitzler auf seinen späteren Wegen
begegnete. Der Errater psychischer Seltsamkeiten, der
Sucher aller Gegensätze, der Bejaher aller Unerwartet¬
heiten, aller Ueberraschungen, alles Unberechenbaren,
dieser wagende Seelenabenteurer, der von den Schlicht¬
heiten der „Liebelei“ raschen Fluges Abschied nahm, trägt
die Empreinte (ein deutsches Wort gibt es nicht für
diesen Wert) der herben Edelheit des süßen Geschöpfes
unlöschbar im Herzen seines Schaffens. Und er, der nun
der Züchter dunkler, glittender, rätselhaft geformter
Orchideen wird, verliert den Duft der zarten, wilden
Orchideenart des Wienerwaldes nie mehr aus den
Sinnen. Marie (im „Ruf des Lebens“) ist Christinens
tragischere Schwester, sowie überhaupt dieses Schauspiels
in seinem Beginn die steile Linie des tragischen Volks¬
stückes erklimmt. Anna, das still den Tod suchende Bürger¬
mädchen, eine der Heldinnen aus „Medardus“, dem selt¬
samsten Volksstück heroischer Art, sie ist Blut von
Christinens Blut. Und auch jene wundervoll reine, wie
mit Silberstift keusch gezeichnete Sabine ist es, die in
einer der letzten künstlerisch abgewogensten Novellen
Schnitzlers („Badearzt Gräsler“) wieder zum Kristall¬
gebilde der Edeleinfachheit wird.
Nur die alte, wundervolle Figur des Musikers, nur
der Vater Weyring ist nicht wieder auferstanden im
weiteren Leben dieser Gestalten bewegten Dichterwelt. Der
herzensliebe Bejaher von Jugendrausch und Glück, dem
die tiefe Weisheit geworden war, seiner Christine
Frühlingstraum mit leisen Herzen zu begleiten, er ist
ebenso monumental im Allverstehen wie Hebbels Meister
Anton in der düsteren Abwehr seines „Ich verstehe diese
Welt nicht mehr". Die naive Seele des alten Weyring war
flugbereit für viele andere Probleme, die der Dichter von
ihr gefordert hätte. Weshalb blieb sie von ihm fernerhin
unerlöst? Vielleicht weil ihr tiefes Vollstum im schöpferisch
elementaren Sinn niemals lebendig wurde, ist sie auch
dem späteren Schnitzler entglitten. Sie verlangte nach
einem Darsteller gleichen Blutes.
Nun ist Girardi gekommen und hat die tiefe Innig¬
keit der österreichischen Volksgestalt zauberhaft erlöst. Seine
hohe Kunst, Kunst zu reiner Menschlichkeit zu erhöhen,
zeigte sich in ihrer schlichten Größe. Nur gerade dieser
frühlingsliebe Greis mit der kindlichen Seele konnte dieser
Christine Vater sein. Der herrliche Celloton seiner Stimme,
die Melodie war; die wundervolle Schwingung seiner
Rede, deren einzelnes Wort durchflutetes Erlebnis ist, die
karge Zurückhaltung seiner erschütternden Trauer. Dies alles
heißt Vollendung. Frau Medelskys Christine ist geblieben
was sie war. Mehr des Lobes ist nicht zu sagen. Lustig Herr
Lackner. Forciert lustig Fräulein Kutschera. Herr Gerasch
war nicht österreichisch. Sondern internationaler Liebhaber¬
theater=Liebhaber. Frau Kalbek aber wußte um das
Geheimnis der Atmosphäre, die der unverwelkliche Zauber
des österreichischen Volksstückes „Liebelei“ ist.
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