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Liebelei
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5. Sennnnnng
Telefon 12801.
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschn
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Nr. 51
„OBSERVER“
I. österr. behördl. concess. Bureau für Zeitungsberichte und Personalnachrichte
Wien, IX/1 Türkenstrasse 17.
Filiale in Budapest: „Figyelö“, VIII. Josefsring 31 a.
Ausschnitt aus: Stauisbürger-Zeitungg
Berlin

8.47
vom 4- JUL 1898
* Residenz=Theater. Im sonnigen Juli eine Wohlthätigkeits¬
Aufführung unter lebhaftester Beteiligung des Publikums, und noch
dazu zur sonntäglichen Mittagszeit, dürfte überraschen. Aber die
Sonntags=Matinéen in dem schmucken Salon=Theater der
Blumenstraße sind von jeher ein beliebtes Stelldichein
aller Berliner Theaterfreunde gewesen, mag auch die Vollzähligkeit
in den Monaten ohner nicht erreicht werden. Das Benefiz galt
eines
für mittellose
der
Gründung
Unterstützungsfonds
Bühnenkünstler ohne Sommer=Engagement. Dem löblichen
Unternehmen zu dienen, hatten sich unter der Ober¬
leitung Josef Jarno's und unter dessen persönlicher Mit¬
wirkung als Darsteller eine Reihe namhafter und geschätzter
Künstler und Künstlerinnen aus Berlin und Wien vereinigt. Man
hatte das Vergnügen, Herrn Hubert Reusch auf derselben Bühne
wieder zu begrüßen, auf welcher iym in früheren Jahren stets die
Auszeichnungen eines enfant ehéri zuteil geworden waren. Ueber¬
dies dürfte eine besondere Anziehungskraft noch in dem Umstande
liegen, dass Hansi Niese, der gefeierte heitere Gast aus dem
Wiener Ensemble des Thalia=Theaters, in einer ernsten
Rolle, als Christine Weining in Schnitzer's fesselndem
Schanspiele „WLiebelei“ auftrat. Die Wahl dieses aus
den zahlreichen Aufführisigen des „Deutschen Theaters“ bekannten
feinrealistischen Stückes in Verbindung mit dem nachfolgenden
übermütig lustigen Genrebilde „Abschiedssouper“ war ganz ge¬
schickt. Am Deutschen Theater wurde Agnes Sorma in der
Rolle der Christine mit Beifall überschüttet. Aber höher konnte das
Maß der Auszeichnungen gestern bei der neuen Darstellerin der
armen Geigenspielerstochter Christine, die unter der Wucht der Ent¬
täuschungen ihres von leidenschaftlicher aufrichtiger Liebe erfüllten
Herzens zusammenbricht und in den Tod geht, auch nicht steigen. Der
Umfang des Talentes dieser Künstlerin mit dem urwüchsigen Wiene¬
rischen Idiom ist erstaunlich. Mit bedeutender Gefühlswärme, sinnig
Für
und unter echten Thränen der Freude und des Schmerzes, dann e
aber wieder mit dem leidenschaftlichen, von eigenartigen Krafttönen
getragenen Temperamente spielte Hausi Niese das unglückliche 1s
Wiener Mädchen entzückend, ergreifend und erschütternd. Dieser
„ 100
interessanten Leistung der sonst so
lustigen Soubrette, (as
in welcher die Geistinger eine congeniale Nachfolgerin zen
Abonne
erhalten hat, entsprach auch die Gesamt =Wiedergabe des
Abonn
Schauspiels.
Sie durfte
jeder Hinsicht vortrefflich,
anregend und fesselnd genannt werden. Frl. Paula Wirth gab
die Modistin
„Mizi Schlager“ mit herziger Frische und un¬
befangenstem Wiener Frohsinn. Herr Jarno und Herr
Reusch spielten die Figuren des „Theodor" und „Fritz“
mit köstlicher und lebenswahrer Charakteristik, Frau Sophie
Pagay und Hrn. Marx nicht minder die des alten Violinspielers
vom Josefstädter Theater und der neugierigen, klatschsüchtigen
die am
hatte
Hausfreunden.
Herr Willi Froböse
Deutschen Theater von Herrn Nissen zur nachhaltigsten Wir¬
kung gebrachte Episode des verhängnisvollen Ehegatten aus dem
ersten Acte rasch übernehmen müssen und füllte seinen Part dankens¬
wert aus. In dem Schlufs=Einacter, welchen Adele Sandrock in
Berlin schon vorgeführt hatte, entzückte Hansi Niese von neuem
durch den temperamentvollsten und jocofesten Humor einer naiven
kleinen Theaterdame, die ihrem bisherigen reichen Beschützer, der
selbst der lockerste Zeisig ist, um eines mittellosen simplen Fach¬
Collegen willen den Laufpass gibt. In den Männerrollen bewegten
sich die Herren Jarno und Reimann ebenfalls mit wirkamstem
Humor, sodafs das animirte Publikum am Schlusse jubelnden,
Beifall äußerte.
Teipton 12801
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschaltt
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Nr. 50
„OBSERVER“
I. österr. behördl. concess. Bureau für Zeitungsberichte und Personalnachrichten
Wien, IX/1 Türkenstrasse 17.
— Filiale in Budapest: „Figyelö“, VIII. Josefsring 31a. —
Ausschnitt aus: Das Hieine Jourhaf“(Bertia)
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vom 4— JUl. 1898
Die 2. neu.
— Residenz=Theater. Gestern: Wohlthätig¬
keitsmatiué: „Liebelei“, hierauf „Abschieds¬
sonper“.
Hausi Niese, die lachende, spielte die Christine i
Die Rolle des süßen Wiener Mädels ist
Schnitzler's „Liebelei“
in der letzten Zeit gewissermaßen ein Stimmprüfer für
die Gemüthstöne von Schauspielerinnen geworden, die
in den kargen Linien einer fast nur skizzirten Zeichnung ein
Menscheuleben ausschöpfen möchten. Die liebe, herzliche Wiener
Geschichte mit ihrer lichten Stimmung und ihrer sanften
Melancholie hält darum das Interesse länger fest, als der
Es ist so
dramatische Gehalt derselben thun könnte.
Das oberflächliche,
viel Hübsches, Lebendiges darin.
Jedem gern den
von
lustige Mädel, das sich
Tisch decken läßt und mehr Küsse hat als Gedanken, dann der
Lebens=Flaneur, der nervöse Aufregungen meidet und von
gutem Wein und bequemer Liebe mehr hält als von
pathetischen Gefühlen und heroischen Posen. Und dann in der
Hauptsache: Christine, das junge Kind aus dem Volk, in
dessen stilles Leben der Mann von Welt tritt. Ihr Erster.
Sie giebt sich ihm gleich ganz und gar. [Es sist die
intensive, wunschlose, Alles verschenkende Liebe, die aus der
ganzen Welt jeden anderen Sinn nimmt und Alles nur durch
das warme, uferlose Gefühl sieht. Das Volk von Wien
und der Dichter griff
hat viel solche Mädchen
glücklich. Hier in Berlin sahen wir zwei Darstellerinnen
50 dieser Rolle: Agnes Sorma und Adele Sandrock. Agnes Sorma
Für
100 gestaltete die Figur aus dem reichen Fond ihres Gemüthes, einen siv¬
200 melancholischen Schleier leicht um die Gestalt legend. Adele par
aus
500 Sandrock wieder mit ihrer virtuosen Nervenkunst gab ein düster
1000 getöntes, packendes Bild. Beiden Figuren fehlte der Lokalton.
das
Es waren wohlüberlegte, fein durchdachte und gut empfundene
den
Abonne
Figuren. Und nun kommt Hausi Niese als Dritte. Kein
Abonne
Leichtes nach diesen beiden Künstlerinnen, zumal sie aus einem
ganz anderen Bezirk der Kunst kommt, aus der lachenden, derb¬
drolligen Welt der Posse. Wie will sie das machen? Mit
diesen Lachaugen, mit diesem Mund, um den die Funken
Ausgelassenheiten spielen.
aller
und
ulks
des
Die Mizi Schlager, die Modistin, ja, das wäre was für sie.
Aber die Christine? Die stille, herzliche, traurige Christine.2
Man dachte sich Dies und Das, man kann ja transponiren und
sich von einem Instrumente Töne denken die diesem
sonst fremd. Und also: Christine betrat das Jung¬
gesellenzimmer Fritz Lobheimer's und sprach die ersten
Worte, that die ersten warmen Blicke und es war, als sehe man die
Gestalt zum ersten Male. Es war das liebe, herzige Mädel, das man
*
aus der Lektüre des Buches kennt. Das Volkskind, das einfache,
volle Stück Natur. Kein Strichelchen zurechtgerechnet, kein Ton¬
durch einen Gedankenfilter gegangen. Und wie die Zeichnung
20
im Umriß, so wuchs das Bild mit vollen Farben ins Leben hin¬
4
über, aus dem es entnommen. Wir haben den Schluß des
zweiten Aktes machtvoller von der Sandrock gesehen, als diese
dem
nochmals die Thür aufriß, mit starren Augen
die
davoneilenden Geliebten nachblickte, dann langsam
Thüre schloß und an dem Ofen zusammenknickend leise
vor sich hin weinte. Die schlichte Herzlichkeit der Niese, ihren
Worte, die sich wie von ungefähr einstellen, ein jedes mit dem
Echo im Herzen, griffen gar tief. Welche starke und dennoch zart
geführte Linie im Schmerz, urweiblich und von einer er¬
Eine erstaunliche Unmittelbarkeit der
greifenden Reinheit.
Empfindungsäußerungen, ein freies Hervorquellen ohne jeden
künstlichen Druck. Das Zusammenbrechen bei der traurigen
Botschaft im letzten Akte, der betäubende Schlag, und der
dann stoßweise in zerrissenen Worten
stumme Schmerz, der
erschütternd. Wie viel Können in
herausbrach, waren
diesem wuchtigen Naturalismus! Welch eine reiche Begabung, die
den herzlichsten Humor und die tiefste Trauer auf ihren Saiten
hat. Man war zu einem Experiment gekommen und befand sich
Aus
mitten in einem künstlerischen Sensationsereigniß.
einer prächtigen Soubrette ist über Nacht
o߬
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