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Jungösterreicher mit der subtileren Kultur und der
weltschmerzlich lächelnden Walzerstimmung ihrer Stadt
box 8/5
Zyklus
4.9. Anatol
unseren bitterernsten Naturalismus bereicherten, und
sie haben sich unverändert frisch erhalten, obschon sie
heute das für moderne Literaturwerke bereits ehrwür¬
dige Alter von siebzehn Jahren aufweisen. Wir
hören noch immer mit Behagen die gräflöse Welt¬
weisheit der Dialoge an, in denen der „leichtsinnige
Melancholiken" Anatol und sein realistisch gesinnter
Freund Max ihre Erlebnisse und Anschauungen über
das unendliche Thema „Weib" austauschen, während
zwischen dem blasierten Schwärmer und dem ver
gnüglichen Skeptiker eine sympathische Reihe füßer
Mädel und mondäner Frauen habinhüpft, als lebendige
Exempla, an denen ihre törichten und gescheiten
Doktrinen demonstriert werden. Diese Gespräche
Tramolet zierlich
schaukeln zwischen Novellette und
hin und her, aber nachdem man schon früher mit ein¬
zelnen von ihnen gelungene Bühnenversuche angestellt
ergab sich gestern, daß sie reich genug sind, auch die
Kosten eines ganzen Theaterabends zu bestreiten. Es
gab sogar in diesem losen Gefüge so etwas wie eine
dramatische Entwicklung, symbolisch dargestellt an —
Anatols Schädel: der zeigte nämlich üppigen Haar¬
schmuck, als der Held so vieler kleiner Abenteuer
Hochzeitsmorgen". Der armselige, nun schon
vor der „hypnotisierten Cora die „Frage an
etwas liebesinvalide Held hat am Morgen seines
das Schicksal, nämlich die, ob
Hochzeitstages, am Morgen nach der letzten Freiheits¬
ihm treu sei, — lieber nicht stellt. Wir dürfen ihn,
nacht, eine frühere Freundin bei sich. Die Schwierig¬
also den Haarschmuck, noch ebenso üppig unter dem
keit, sie los zu werden, die Wut der wilden Kleinen,
Zylinder vermuten, unter dessen Schutz Anatol die
Anatols Angst, sie könnte die Hochzeit stören, bildet
elegante Gabriele auf winterlicher Straße bei ihren
den Inhalt dieser Episode. Die Verlegenheiten sind
„Weihnachtseinkäufen" in ein pikantes Ge¬
geschickt gesteigert und da das kleine Stückchen so flott
spräch verwickelt. Aber er offenbart bedenkliche kleine
gespielt wurde, erkämpfte es sich seinen Beifalls=Ertrag,
Lücken im „Abschieds souper, da die betrogenen
trotz der im Hause bereits eingetretenen allgemeinen
Ermüdung.
Betrüger sich gegenübersitzen. Er wird dünner und
Die Anatol-Szenen wurden überhaupt recht frisch
dünner in der „Episode", da das eitle Männchen
gespielt und waren von Emil Lessing mit vielem Ge¬
erleben muß, daß ihn ein Weibchen radikal vergesser
schmack inszeniert. Freilich waren die Vertreter der
hat. Und er ist zur leuchtenden Glatze mit einsam
beiden Hauptrollen für ihre Aufgaben geistig zu reif.
sich schlängelnder Sardelle am „Hochzeits¬
Herr Monnard war mit allem Geschick bestrebt, den
morgen" geworden, da Anatol sein Bräutigams¬
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weichen, schleppenden Ton des dekadenten Wiener Gigerl
bukett vor der rabiaten Ilona retten muß, mit der
zu treffen wie er im Aeußern das Wesen charakterisierte.
er Abschiedsnacht gefeiert, bevor die Ehe ihn ein¬
Herr Reicher, der vor zwanzig Jahren an der ersten
Berliner Börsen Courier, Berlin
heimst. Der Träger dieser tragischen Perückenfolge
Aufführung eines dieser Stückchen mitwirkte und also
war Heinz Monnard, der für den unsterblichen
aus Pietät wieder mittat gab den liebenswürdigsten
Morgenausgabe
Typus des liebenswürdigen Snob viel drollige Laune
Räsonneur, aber man sträubte sich gegen die Annahme,
und ein geschickt abgewogenes Quantum verliebter
daß diese beiden wuchtigeren Darsteller sich andauernd
Tumbheit aufbrachte. Wie die ganze Vorstellung des
mit derlei Primaner= oder Studenten=Liebeleien ernst¬
haft befassen. Frl. Somary war flott und frisch im
Lessing=Theaters war auch dieser Anatol ein weni¬
Vor den Kulissen.
ersten Stückchen, Frl. Lossen wollte aus der kleinen
aufs Deutliche und Derbe gestimmt. Die Szenen
Rolle im zweiten mehr herausschlagen, als sie bietet
verlieren dadurch etwas von der zarten Lässigkeit ihrer
Das Lessing=Theater, das uns bald Arthur
der Zettel verzeichnet übrigens hier wieder den
dekadenten Ironie, aber sie gewinnen dafür an
Schnitzlers neuestes Werk darbieten will, brachte uns
gestern den Altestes. An die zwanzig Jahre sind die Max, der aber gar nicht erscheint. Im „Abschieds¬
bühnenmäßiger Schlagkraft. Kam Herr Monnard
souper bewährte Frl. Sussin sehr viel Geschick
Anatol-Szenen alt, seit achtzehn Jahre liegen sie
immerhin aus Wien, so stammte der Max von
die Nawetät nur
im Druck vor, der Autor ist längst und hoch über die und überlegene Sicherheit
Emanuel Reicher leider aus Budapest oder noch
fehlte, die diesem Stücken das Verletzende
Entwicklungsphase hinausgewachsen, der jene Skizzen
ferneren südöstlichen Gegenden. Wie im Alter
nimmt. Die kleine Szene der Zirkus=Bianca im
entstammen, und gestern erst wurden sie auf einer
(Herr Reicher kann sehr viel jünger aussehen) so in
Berliner Bühne, zu einem Strauß gebunden, einer vierten Stückchen lag Frl. Herterich recht gut und
den Manieren entfernte sich dieser Konsident all¬
verständnisvoll empfänglichen Zuschauerschar vor die Ilona gab denn Frau Irene Triesch Gelegen¬
zuweit von seinem Herzensfreund. Zu dem
gesetzt. Nicht alle sieben freilich, aber doch fünf, die heit, ihre erstaunliche Vielseitigkeit zu bewähren.
Diese temperamentsprühende kleine Frau, anschmieg¬
Reigen der „Verschiedenen": der Cora, Annie,
den Zeitumfang eines Theaterabends gerade füllen
sam und schmeichelnd wie ein Kätzchen, ungebärdig
Gabriele, Bianca
Ilona reichten sich
Zwei dieser kleinen, pikanten Dialoge un
wie eine Wildkatze, ist das wirklich unsere reichbeseelte
Fräulein Somary, Fräulein Lossen, Frau
Szenen sind hier schon früher gespielt worden. „Di¬
Ibsen=Darstellerin, wirklich die geistgetragene Jeanne
Sussin, Fräulein Herterich und Frau
Frage an das Schicksal im Residenz=Theater
d'Arc, wirklich die Priesterin im Tempel unserer klassi¬
Triesch ihre sanften und temperamentvollen, zärt¬
mit Jarno als Anatol, das „Abschiedssouper“ wurde
schen Dichtung?
hier sogar viel und oft und auf sehr vielen Bühnen
lichen und kräftigen Hände. Mit besonderem Erfolg
Der ganze Anatol-Abend ist als eine hübsche
gegeben, mit Hansi Niese, mit Gisela Schneider=Nissen
Frau Sussin, die sich im „Abschiedssouper" als be¬
Studie zur Kenntnis von Schnitzlers Entwick¬
mit der Sorma sogar, und mit der ersten Dar¬
schwipste Treulosigkeit von ausgelassenster Fidelität
lung, nicht als Charakterisierung Schnitzlers an¬
stellerin der Rolle, mit Adele Sandrock. In ihren
nicht zuletzt auch als bewundernswerte Esserin mit herr¬
zusehen. Derlei auf einen ironisch-pessimistischen
Zusammenhange erst, in ihrer Geschlossenheit, geben
lich ungenierten Gewohnheiten einen wohlverdienten
Ton gestimmte Jugendarbeiten haben viele unserer
die fünf von den sieben Anatol-Szenen ein Bild de¬
Sonderapplaus holte.
jugendlichen Verfassers, des Arthur Schnitzler von Dramatiker einmal veröffentlicht. Sudermanns
Geschichten „Im Zwielicht" sind den Schnitzlerschen
1890 oder 1891.
Nur daß uns hier
Skizzen nahe verwandt.
Daß die fünf kleinen Schöpfungen weder einzeln
manche aus Uebermut in Wehmut, aus Wehmut in
Dramen irgendwelcher Art bilden, noch insgesamt zu
Momente
recht
Uebermut umspringende
einem einheitlichen Stück sich zusammenschließen, ob
Wienerisch anmuten, wie Straußische Melodien,
wohl die zwei männlichen handelnden oder sprechen
den Personen dieselben bleiben und auch die Nur daß der „leichtsinnige Melancholiker Anatol die
weiblichen nur die Namen wechseln, das würde Züge des jungen Schnitzler zeigt. Dem ge¬
dem Erfolge wahrlich keinen Eintrag tun. Gerade reiften Schnitzler von heute werden wir an gleicher
Stätte bald wieder begegnen.
J. L.
unsere Zeit hat ja eine fast krankhafte Vorlieb¬
für alles was von der Norm, vom Gewohnten ab¬
weicht. Aber die immer wieder, immer aufs Neue sich
wiederholenden Gespräche über das Thema Liebe er¬
müden — oder eigentlich über das Thema „Lie¬
belei“. Denn erste, flüchtige Entwürfe zum erfolg¬
reichsten Stück Schnitzlers, zu „Liebelei", stellen diese
Szenen dar: Erste Skizzen zu dem später so vor¬
trefflich, so meisterlich ausgeführten Porträt des
Wiener füßen Mädels. Die Gespräche sind
jedesmal durch ein pikantes Beispiel, durch
ein psychologisches Experiment belebt, aber die
manieriert pessimistische Weltanschauung, die in diesen
Gesprächen und Beispielen sich kundgibt, ist nirgends
Extrakt von Leben und Erfahrung, sondern überall