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Text

klu-
4.9. Anatol
burg, Tinto.
(Quellenangabe ohne Gewähr.
Ausschnitt aus:
30 12.190
vom
Theater.
Leipzig, 30. Dezember.
Anatol.
Den laxen „Spielereien einer Kaiserin“ ließ das
Leipziger Schauspielhaus gestern abend eine
neue Reihe lose gefügter Bilder folgen, fünf Stücke
aus dem Einakter=Zyklus „Anatol“, mit dem Arthur
Schnitzler einst im jungen Wien seine glückhafte
Reise in die Literatur antrat. Er hat uns
seitdem mit weit besseren Dramen und Ein¬
akter verwöhnt, so daß die Frage unbeantwortet
bleibt, weshalb das Schauspielhaus diese Wieder¬
erweckung vornahm. Vielleicht um seine bunten
Inszenierungskünste zu zeigen. Das dürfte der
einzige plausible Grund sein. Ganz stichhaltig ist er
nicht, wenn man die vier endlosen, unsäglich er¬
müdenden Zwischenpausen in Betracht zieht, die wohl
denen es nun
für den Theaterbesucher dennoch eine abschreckende
Qual sind. Sie zerreißen ja auch die paar letzten
Fäden zwischen den einzelnen episodischen Akten noch
ganz und gar, und wenn man zuletzt die Summe zieht,
bleibt ein großes Gefühl enttäuschender Leere trotz acht¬
samer Regie und fleißigen Spiels. Den Hypnoseakt mit
der unterlassenen Frage an das Schicksal möchte man
sich als ein document humaine von vorgestern noch
gefallen lassen; das ironische Gespräch Anatols mit
der mondänen Dame um die Stunde der Weihnachts¬
einkäufe fesselt mehr durch den stimmungsvollen
szenischen Rahmen als durch die operettenhafte Sen¬
timentalität der Gespräche. Nur eines fühlt man
deutlich heraus: das ist die Welt, aus der die Zwölf
aus Steiermark und manches Jüngst=Wienerwerk
entsprossen; die mit Recht vor dem „Abschiedssouper
gespielte „Episode“ ist das wertvollste Stück des
Abends, eine galante, elegante, sentimentale Novelle
von feinsten Nuancen. Hier war auch Herr Wildenhain
mit seiner subtilen Differenzierungskunst weitaus am
besten. Man hatte wirklich das Gefühl, daß sich hier die
Liebesempfindungen eines empfindsamen galant homme
ganz in Stimmungen auflösen. Um seiner derberen Töne
willen mag das „Abschiedssouper gelten. Damals
mag man es angestaunt, bejubelt haben, heute sind
uns Ton und Inhalt — leider — altvertraut. Von
abstoßenden Wirkungen ist es, zu sehen, wie sich der
empfindsame Vielliebhaber Anatol schließlich im
„Hochzeitsmorgen" zum gedankenlosen Wollüstling
entwickelt. Es mag Leute von gewissem Geist geben,
die hier Offenbarungen finden, ein Mensch von nur
einigermaßen anständigen Gesinnungen aber ver¬
zichtet. — So gab es gestern zwei, zum mindesten
einen Akt zuviel. Die Darsteller und Regisseure
hätten zwei entsetzliche Pausen vermeiden und dem¬
nach lautestes Lob ernten können. Herr Bornstedt
und Herr von Lossow hatten Garonlogis, winter¬
liche Straße und Sacherkabinett mit Geschmack aus¬
gestattet, Herr Wildenhain spielte seinen Anatol
in konsequenter Auffassung durch alle fünf Episoden,
wacker unterstützt durch Herrn Leibelk, und die
Damen Förster und Christophersen zeigten mit
Grazie das zwei- und dreifache Gesicht liebender und
geliebter Damen und Dächen. An Beifall mangelte
es nicht.
p. 8.
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OBSERV
1. österr. beh. konz. Unternehmen für Zeitung
Ausschnitte und Bibliographie.
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
Berlin, Brüssel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiana,
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapel,
New-York, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
la
Ausschnitt aus:
der neueste Nachsche
Anatol von Arthur Schnitzer (Zum ersten Male im
Leipziger Schauspielhaus, am Freitag, den 29. Dezember).
— Der gute alte Anatol, an dessen Wienerischer Lebemanns=Eleganz
und koketten Melancholie sich in den beiläufig 18 Jahren seit seiner
Geburt manch deutsches Theaterpublikum sattsam erbaut hat, der alte
brave gute Anatol mit dem Doppelgesicht, der gutmütig naiven Schwär¬
merseele und der schöngeistig-raffinierten Lebemannsphysiognomie, aus
deren Mischung jene spezielle Nuance des eleganten Wiener Jung¬
gesellentums in pikanten Parfüm hervorschlägt, auf deren Studium
der junge Arthur Schnitzler einst so viel sorglich gedrechselte Einakter
verwendet hat — kurz Anatol, der ewig verliebte, melancholisch ange¬
hauchte Schwerenter, den wir alle seit langen Jahren kennen — er
tas gestern so, als hätten wir uns im Leben und in Leipzig nie ge¬
sehen und verbeugte sich mit eleganter Geste in der Sophienstraße vor
aus: „Anatol!" Da man Leuten seines unterhaltsamen Schlages der¬
gleichen indes nicht übel nimmt, so gingen wir auf den Spaß ein und
taten so, als sähen wir ihn zum ersten Male, ließen uns seine ami¬
santen Philosophien über die Liebe, pardon: über das Liebeln, und
über die Frauen, pardon: die „Verhältnisse lächelnd servieren, verkosteten
mit Kennermiene die schöngeistigen Leckerbissen seiner ach so gepflegten
Redekunst und folgten ihm durch all die amüsanten Wirrnisse seines
genußreichen Junggesellenlebens bis an die Schwelle des rächenden
ehelichen Alters willig, als sei's das erste Mal ... Wirklich — ganz
so willig? Nun daß mir manches matter, gekünstelter erschien, als
einst vor Jahren, daß mich die oft bewunderte Technik nicht mehr so
blendete, wie früher, es ist schließlich natürlich. Der Eindruck blieb
doch: daß in diesem Einakterstrauß eine durchaus persönlich geartete,
feine, geistige Potenz ihr nächstliegende Lebenseindrücke in eine über¬
raschend sein geschliffene künstlerische Form gegossen hat, die den gan¬
ten kommenden Dramatiker Schnitzler in seinen Grundelementen ve¬
reits enthält. Ja, was er auch später an Größerem und Tieferem ge¬
schrieben hat — dieser Anatel bleibt doch eine seiner rundesten und
lebenskräftigsten Schöpfungen.
Das Schauspielhaus, das den
Anatol gestern gewissermaßen entdeckte, war so verliebt in die 5 (von
den 7 vorhandenen) Einakter wie wir anno dazumal, und gab sich
mit feurigem Regieeiser an eine stimmungsvolle Inszenierung hin.
Für lauschigelegante Junggesellengemächer, wie für ein „stilgetreues
chambre separée mit veritablem Sekt und Austern war in generöser
Einfühlung in die jeweilige Situation gesorgt. Besonders hübsch da¬
zwischen die Winterabend=Kleinstadtszenerie mit dem Schneegestöber in
Nr. 2 „Weihnachtseinkäufe. Leider stand in den sonst so wandelbaren
Herren Wildenhain und Leibelt nicht das rechte Schnitzlersche
Freundespaar, Anatol und Max, in diesem Milieu. Es fehlte beiden
jene weiche Wiener Eleganz, verbunden mit dem Zusatz von seiner
Geistigkeit, ohne die der feingeschliffene, glitzernde Dialog seine Leich¬
tigkeit und sein Parfüm einbüßt. Die Pointen kamen oft allzu eckig,
gründlich, gelegentlich gar drastisch — kurz also: zu norddeutsch —
heraus. Frl. Christophersen entschädigte dafür wenigstens in
dem Abschiedssouper durch ihr brillant (bis auf den Dialekt) hinge¬
worfenes Ballettmädel mit dem Sektschwips. Auch als schicke Mon¬
däne und als feurig liebende Ilona bot sie guten Umriß, der vor allem
dem Auge zu tun gab.
Dr. Ebert Delvy.