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Text

„OBSER
1. österr. beh. konz. Unternehmen für Zeitungs¬
Ausschnitte und Bibliographie.
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Brüssel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
New-York, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Gewähr.
Tagesbote aus Mähren und Schlesien
Ausschnitt aus:
Brünn.
17. 12. 191
am
Wiener Schauspielbrief.
(Burgtheater: nochmals „Der junge Meardus
Volksthea.
„Anatol. — Neue Wiener Bühne: „Lady Frederick“,
Residenz¬
bühne: „Ysbrand“.)
Von Wilhelm v. Wymetal.
Artur Schnitzlers dramatische Historie „Der junge
Medardus“ ist der erste dauernde Erfolg geworden, den
das Burgtheater seit jenem Tage, da Kainz auf Gastreisen
ging, zu erringen vermochte. Für die zweite und dritte Vor¬
stellung entwickelte sich in Wien eine beim Hofburgtheater
schon lange nicht mehr übliche Agiotage, und für Sitze, wie
für Logen, wurde das Drei- und Vierfache des Preises an
Wiederverkäufer bezahlt. Auch die weiteren Vorstellungen
waren bisher so begehrt, daß noch jedesmal Kartenwerber
abgewiesen werden mußten. Die Hälfte der für das Jubi¬
läum der fünfundzwanzigsten Aufführung nötigen Vorstel¬
lungen ist erreicht, und man darf dem Burgtheater und dem
Dichter aufrichtig Glück wünschen zu dem bedeutungsvollen
Sieg. Inzwischen hat Artur Schnitzler, Arm in Arm mit
dem Deutschen Volkstheater, einen zweiten, nicht weniger
herzlichen Erfolg erlebt. Er hat nämlich den „Anatol“, den
nun auch schon zwanzig Jahre alten Ursprung seines
Ruhmes, wiederum hervorgesucht und ließ von den sieben
Einaktern dieses anmut= und geistreichen Buches fünf am
gleichen Tage in Wien am Volkstheater und in Berlin am
Lessingtheater Otto Brahms aufführen. Die Auswahl, die
Schnitzler getroffen hat, muß als sehr glücklich bezeichnet
werden. Sie beginnt mit der „Frage an das Schick¬
sal, die Anatol frei hat (indem es ihm offenstünde, seine
hypnotisierte Geliebte Cora nach ihrer Treue oder ihrer
Untreue zu fragen) und die er nach längerer Überlegung
nicht stellt. Es folgen die wohl noch nie und nirgends in
einem Theater gespielten „Weihnach seinkäufe
die Anatol zusammen mit der schönen Mondaine Frau
Gabriele macht, der er von seinem süßen Mädel“ erzählt
und die ihm zum Schluß des Dialogs zu verstehen gibt, wie
gerne sie an die Stelle des süßen Mädels träte, wenn sie
nur den Mut der Konventionswidrigkeit hätte. Als Mittel¬
punkt des Anatolabends ergötzt die bekannteste und öftest
gespielte Sizze, das drollige „Abschieds souper der
zwei Liebesleute, die ein jedes für sich schon neue Liebes¬
fäden gesponnen haben, dem Partner aber den vermeint¬
lichen Schmerz des Abschiedes anzutun sich nicht entschließen
können Flüchtig huscht dann die „Episode“ vorüber, die
Geschichte von Anatols Liebelei mit der Zirkusreiterin
Bianka, die Anatol zertreten zu haben wähnt, während sie
ihn zu seiner bitteren Enttäuschung bei einer Wiederbe¬
gegnung nicht einmal mehr erkennt. Den amüsanten Ab¬
schluß bildet „Anatols Hochzeitsmorgen" mit
dem Wiederauftauchen einer sechs Wochen vor dem Hoch¬
zeitstag taktvoll verlassenen Geliebten, die den tempera¬
ment-drohenden Namen Ilona führt, mit der sich Anatol
recht unheilig auf seinen Hochzeitstag vorbereitet und die,
als sie die Wahrheit über Anatols bevorstehende Vermäh¬
lung erfährt, nur mit Mühe davon abzuhalten ist, auch in
die Kirche zu kommen und dort Skandal zu machen
Die Auswahl muß, wie schon bemerkt, als überaus ge¬
lungen anerkannt werden. Die zwei weggelassenen Einakter
sind die schwächsten und bühnenunwirksamsten des Zyklus.
Einer davon, „Denksteine“, setzt den sehr unwahrschein¬
lichen Fall, daß Anatol beabsichtigt, ein Mädchen, das nicht
nen Armen die Liebe kennen gelernt hat, zu hei¬
raten. In zwölfter Stunde kommt er von diesen Plan
Zyklus
4.9. Anatol
ab, nicht, weil das Mädchen nach Vernichtung aller übrigen
Erinnerungen einen Rubin, den es am Tage seiner Weib¬
werdung in einem Medaillon trug, aufbewahrt hat, son¬
der weil sich die gute Emilie noch überdies aus ihrer
früheren Zeit her einen schwarzen Diamanten im Werte
von einer Viertelmillion aufgehoben hat; mit einem sehr
pathetisch herausgeschmetterten „Dirne“! tritt Anatol hier
om Schauplatz ab. Dramatisch noch undenkbarer wäre die
Agonie", deren Dialog im Auf und Nieder wechselnder
stimmungen das Verglimmen einer Leidenschaft Anatols
u einer verheirateten Frau wiedergibt. Das Deutsche
olkstheater hat in dem liebenswürdigen und geschmeidigen
Herrn Kramer einen ebenso unübertroffenen Vertreter
ür den ins Wienerische übersetzten Don Juan Anatol,
diesen Typus des leichtsinnigen Melancholikers, als den er
sich selbst deklariert, wie es in Herrn Lackner den rich¬
tigen Interpreten des Carlos=Mephisto Max hat, der
Ebbe und Flut in Anatols Gefühlsleben mit seiner kühlen
Skepsis als freundschaftlicher Ratgeber begleitet. Von
Max geht ein Hauch kalter, gesunder Heiterkeit aus, sagt
Anatol. Und wenn Anatol nach seinem Geständnis vom
Doppelverhältnis, das ihn dazu zwinge, vor zehn Uhr
abends im Vorstadtviertel Markersdorfer und nach zehn
Uhr beim Sacher Sekt zu trinken, tiefsinnig meditiert: „So
ist das Leben!“, so ist Max dazu da, sofort zu erwidern:
„Na ... entschuldige... das Leben ist nicht so, um
damit dem Publikum klarzulegen, daß sich Schnitzler mit
seinem Anatol, so lieb er ihn auch offenbar hat, doch nicht
völlig identifiziert. Für die von Anatol jeweils Erkorenen
besitzt das Volkstheater eine Frauengalerie voller Schönhei¬
und Anmut. Fräulein Hannemann war als Schneider¬
mädel Cora schlicht und natürlich, Fräulein Reinau als
Weltdame elegant und vornehm, Frau Glöckner als
Ballettratte frisch und ungezwungen, Fräulein Müller
als Zirkuskünstlerin graziös und biegsam, Frau Gala¬
fres brachte als Ilona die erforderliche, nicht unsympathische
Dreistigkeit auf; übrigens hätte dem Volkstheater auch
die Besetzung der denkstein-frohen Emilie (Fräulein Wal¬
dow) und der oberflächlichen Frau Else (Fräulein Mar¬
berg) keine Schwierigkeiten bereitet. Besonders hervorzu¬
heben ist diesmal Frau Glöckners Balletteuse Annie. Diese
Rolle verleitet leicht zu derber Drastik. „Einen Schwips
will ich kriegen... es ist so wie so der letzte," gesteht die
edle Seele. Aus diesen Worten und einigen Andeutungen
des Textes im Dialog haben die besten Darstellerinnen der
Annie, wie zum Exempel Frau Niese, stets die Berechti¬
gung genommen, eine regelrechte Berauschungsszene vorzu¬
führen. Frau Glöckner hat auf diesen Effekt verzichtet und
ihr Wiener Mädel resch und nüchtern bis zum burlesken
Abgang parlieren lassen; gleichwohl steht ihre Figur denen
ihrer Vorgängerinnen um nichts nach. Das Publikum,
unter dem sich, wie beim „Medardus, der Thronfolger mit
seiner Gemahlin befand, schlürfte die Feinheit des Schnitzler¬
schen Dialoges, der gar nicht veraltet ist, und sich mit franzö¬
sischen Vorbildern und Nebenbuhlern, wie Henri Monnier,
Gyp, Lavedan, Hervieux, Droz, Jeanne Marni, durchaus
messen kann, voll Behagen, und das Volkstheater wird vor¬
ussichtlich im alten „Anatol“ ein ebenso ergiebiges Zug¬
ick, wie das Burgtheater im jungen „Medardus haben.
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