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4.9. Anatol - Zyklus
Ausschnitt auch Salzburg
PARIS
vom
Von der klerikalen Kritik. Ein Parteigenosse schreibt
uns: In Ihrer gestrigen Nummer zitierten Sie die von
der „Salzburger Chronik gebrachte Theaterkritik des
Herrn Eckhardt über Schnitzlers „Anatol“. Der Sauher¬
denton christlichsozialer Kritiker durchaus nichts ver¬
blüffendes, hierin steht auch Herr Eckhardt nicht allein da.
Wie aber ein solcher Kritiker sich als Sitten= und Moral¬
richter geberden darf, ist etwas rätselhaft; es gehört dazu
jedenfalls viel Kourage. Die große Zeit, in der wir leben,
hat auch ihre großen Männer gefunden, sie befinden sich
nur in der christlichsozialen Partei, wie sich von selbst
versteht. In Wien rennt z. B. ein gewisser Pater Wolny
ein Patentehriftlichsozialer, herum, der zwar nicht Schnitz¬
ler und seinen „Anatol anflegelt, wohl aber Lessing und
sein Werk „Nathan der Weise". Hören Sie, wie: „We¬
demjenigen, der es wagen sollte, uns an dieser strengen
Arbeit der Selbstzucht zu hindern, wehe jenen Schur
ken, die es wagen, in der Not das Getreide zu ver¬
teuern, während wir für das Schwarz=gelbe Kreuz
Hunderttausende von Kronen sammeln, damit wir sie
umsonst ernähren! Wehe jenen elenden Literaten,
die in der ernsten Zeit den Mut dazu haben, Theaterstücke
wie „Nathan der Weise", „Der polnische Jude" und das
„Gretchen“ aufzuführen! Das ist eine Schmach für die
Arrangeure und für die Besucher dieser Theaterstücke
Wir sehen, daß gerade in dieser Zeit des Elends jene
elenden Menschen, die vielfach als Rezensenten
der Theaterstücke auftreten, in dem Moment, wo ein
Schauspieler von bedeutendem Namen sich weigerte, im
„Gretchen“ aufzutreten, den Künstler bis in den Boden
lächerlich machen. Es zeigt sich, daß der Krieg auf das
Denken einer gewissen Gruppe noch lange nicht läuternd
gewirkt hat. Wenn der Friede komme, dann Krieg diesen
Leuten!" — Sehen Sie, was hat er jetzt davon, der Lei¬
sing! Während Herr Eckhardt den Dichter Schnitzler in
die Gattung der sexuellen Hochstapler einreiht, der wie
ein Eber grunt, ist der Lessing bei Herrn Wolny ein
Schurke, der jenen gleicht, die uns das Getreide verte¬
ern. Wenn Sie sie sich noch dazu erinnern, daß Bieloh¬
lawek, auch ein Christlichsozialer, Tolstoi seinerzeit als
„alten Teppen" bezeichnet hat, so werden Sie erst recht
begreifen, daß unsere Zeit nicht einen Schnitzler, Lessing
oder Tolstoi braucht, sondern daß der sittliche Aufschwung
unserer Zeit repräsentiert wird durch die Herren Eckhardt,
Wolny und Bielohlawek,
box 9/1
NEUR, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burgl. Tagespost,
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
an.
Ausschnitt aus:
vom 6-AR195
Salzburger Theaterbrief.) Aus Salzburg, 1. d. M.,
schreibt man uns: Gestern haben sich die Pforten unseres Stadt¬
theaters bereits geschlossen. Die Monatsoper entfällt heuer, aus
technischen Gründen scheiterte die Zusammenstellung eines
Ensembles. Die letzte Woche brachte noch einige sehr gelungene
Abende. Vor allem gastierte Herr Karl Günther noch einmal
und diesmal kam er nicht als Experimentator, sondern als
waschechter jugendlicher Liebhaber und spielte mit der bekannten
humorvollen Liebenswürdigkeit den Anatol in der Einakter¬
Serie Schnitzlers. Mit virtuoser Sicherheit bannte er die vier
verschiedenen seelischen Stimmungen in „Frage an das
Schalpisode, Abschieds=Souper und
„Anatols Hochzeitsmorgen, viermal der leichtlebige,
oberflächliche skrupellose Anatol und doch viermal in anderer Be¬
Schnitzlers
et
den gegenwärtigen schweren Zeiten kein Platz vorhanden sein,
wer sich aber ärgern kann darüber, wenn sie in ihrer eleganten
Form doch dahinfließen, dem ist Blei in die Glieder gefahren,
auch ohne daß er an der Front unseres tapferen Heeres steht,
Es war ein schöner Abend, ein Stück Wiener Literatur aus dem
Anfang der Neunzigerjahre, interessant und sorgenlos. Diese
Einakter fordern ein fliegendes Tempo, Herr Herbst blieb als
Max nicht einen Augenblick zurück, aber den Damen fehlte
durchwegs die schauspielerische Reife, um der Eigenart der
Anatol-Dichtung so ganz gerecht zu werden.
Der letzte Benefiziant war Herr Gregor, der während
der Saison wenig und meist mit geringem Erfolge beschäftigt
war. Er spielte den Straßltoni in Roseggers bodenständigem
Volksstück „Am Tage des Gerichtes“. Mehr als zwanzig
Jahre behauptet sich dieses gesinnungstüchtige und tief mensch¬
lich empfundene Drama auf der Bühne und heute wirkt es
selbst in einer mangelhaften Besetzung stärker als so manches
gepriesene Produkt der naturalistischen Schule. Was ein Dichter
schreibt, verliert nicht sein Echo in der Menschenseele, mag die
Technik des Stückes auch keinen Bühnenpraktiker verraten. Die
Aufführung war herzlich schlecht, aber das Publikum war doch
ergriffen von dem Schicksal des heimatlosen, verachteten und
verfolgten Wilderers.