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na
Zyklus
4.9. An
Manana, Neapolis,
New-York, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
Quellenangabe ohne Gewähr.)
DERLIN
Ausschnitt WARIS.
COLLEMBER 1910
vom
Kleines Feuilleton.
Theater.
Lessing=Theater: „Anatol von Artur Schni
gen Boden aus dem Leben eines Wiener
auch gar nichts anderes als seine windigen Liebesabenteuer im
Kopfe hat! Bei aller eleganten Ironie und Plauderkunst, die diesen
Zyklus, eine der frühesten dramatischen Arbeiten Schnitzlers, verziert,
fällt einem die Fadheit des Bürchschens, wenn man ihn einen ganzen
Abend vor sich hat, bedenklich auf die Nerven. Die Komik fort¬
währenden Betrügens und Betrogenwerdens läßt auf die Dauer nach.
Man muß daran denken, daß es nur ein Zufall ist, wenn dieser
Pflastertreter auf wahlverwandte weibliche Seelen stößt, die mit
gleicher Münze zahlen und so eine Art poetischer Gerechtig¬
keit an ihm vollziehen. Aus diesem Kreise heraus ge¬
ratend, kann er jeden Augenblick zum gewissenlos bru¬
talen Vernichter fremden Lebensglückes werden — die Kehr¬
seite, die Schnitzler in seiner „Liebelei“ gezeichnet hat.
In den Szenen des „Hochzeitsmorgens, die die Aufführung ab¬
schlossen, tritt der Kontrast zwischen der angeschminkten Komödien¬
farbe und dem peinlich tristen Hintergrund — dem Ausblick auf das
Los der schon an ihrem Hochzeitstage betrogenen Frau — ganz un¬
verhüllt hervor. Die Stimmung, die im ersten Teil des Abends bis
zum „Abschiedssouper, sehr animiert war, flaute im weiteren Ver¬
lauf merklich ab.
Am hübschesten in der Idee, wiewohl nicht gerade am bühnen¬
wirksamen, war das erste, auch in der Freien Volksbühne gespielte
Der melancholisch leicht¬
Stückchen „Die Frage an das Schicksal“.
sinnige Liebhaber, der von sich auf andere schließend, in eifersüchtiger
Leidenschaft um die Treue seiner momentanen Flamme bangt, hypnoti¬
siert das Fräulein in der Ueberzeugung, daß sie in diesem Zustand
die volle Wahrheit sagen werde. Er empfindet aber dann in dem
entscheidenden Moment eine solche Furcht, daß er den Zeugen des
Experiments fortschickt und das Mädchen mit einem langen Kusse
erweckt. Nichtwissen ist das Beste. Ein Thema, das der Dichter in
den verwandten Situationen seines „Paracelsius“ wieder auf¬
genommen und psychologisch auf glücklichste vertieft hat,
Den no haltigsten Eindruck machte das kleine Mittelstückchen
im ersten Teite. „Weihnachtseinkäufe". Hier wird die Schilderung
intimer.
Lina Lossens diekrete Kunst brachte den leise abgestuften
Uebergang zu lebendig überzeugendem Ausdruck, Mannards auch
sonst vortrefflicher, schon etwas angefahrter Anatol erreichte hier in
diesen Szenen, in denen sich zu der blasierten Nonchalance ein Zug
urwüchsig echter Liebenswürdigkeit gesellt, den Höhepunkt. Herr
Reicher spielte den Freund und Räsonneur.
New-York, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
ellenangabe ohne Gewähr.
Ausschnitt aus:
Norddeutsche Allgemeine Zeitung
vom
Theater und Musik.
B. Der Anatol des Herrn Arthur Schnitzler
hat die Stammgäste des Lessingtheaters am letzten
Sonnabend weidlich ergötzt. Die mit dem genannten Wiener
Poeten näher vertraut sind, wissen, daß sein Anatol der Typus
eines weichmütigen und wehleidigen, ein wenig vertrottelten und
ein wenig geistreichen jungen Mannes ist, dem seine Vermögens¬
verhältnisse das phakische Dasein eines Nichtstuers gestatten,
und der ein gut Teil seiner Zeit mit den süßen Mädeln“ ver¬
plempert. Aber er gleicht seinem Ahnen, dem Don Juan, doch
nur wenig; denn er erobert und besiegt nicht, sondern er wird
erobert und wird besiegt und sieht sich am Ende immer von der
betreffenden Liebsten hineingelegt. Schnitzler läßt dies Exemplar
eines melancholisch angehauchten Genüßlings durch fünf Ein¬
akter wandeln, die jeweils in sich abgeschlossen, aber dramatisch
nicht sonderlich pointiert und eigentlich nur Plaudereien in
Dialogform sind. Weshalb sie sich vielleicht in der Form des
Buches, als welches sie schon vor etlichen Jahren er¬
schienen, netter lesen, als sie sich auf der Bühne
ansehen. Bei aller Lustigkeit, die der Autor entfaltet, ist um
diese kleinen Affären doch stets ein Hauch des Schmerzlichen
gebreitet. Wie aus dem Wiener Walzer, wenn er so recht
schwebt und schmachtet, etwas Wehmütiges hervorklingt, etwas
von der Stimmung, daß morgen alles aus sein wird. Der
Anatol ist im Grunde ein armer Kerl. Seine Geliebten be¬
trügen ihn, und die Gattin, die er am Ende bekommen soll
wird ihn auch betrügen, so daß sich ihm die Perspektive auf¬
tut auf ein Dasein voll Erinnerungen an der Seite einer
Frau, die er nicht mag . . . . Die in den fünf Einaktern
gezeigten Geschehnisse sind an sich ganz belanglos und nichts
als Episoden: ein billiger Scherz mit einem hypnotisierten
Dämchen; eine sentimentale Begegnung mit einer Frau aus der
Gesellschaft auf beschneiter Straße; ein intimes Abendessen,
wobei Anatol einer kleinen Tänzerin den Abschied geben will,
aber selbst den Laufpaß erhält; ein entdeckter Betrug, während
sich Anatol besonders geliebt wähnte; eine Frechheit am Morgen
seines Hochzeitstages. Aber aus allen glimmt ein Lichtlein,
das diese Dingerchen mehr oder minder liebenswürdig
erscheinen läßt: ein bißchen Beseelung, ein Schuß Senti¬
mentalität, ein Tröpfchen Resignation, ein Klang von Welt¬
erfahrung, eine Nuance der Menschenverachtung.
Die Darstellung der Lessing=Theater=Bühne machte die
fünf Stückchen recht annehmbar und hob sie aus ihrem Buch¬
dasein heraus zu einem frischen Leben. Sonderlich nett und
fein war der Anatol des Abends: Herr Heinz Monnard.
Er trug eigentlich das Ganze von Beginn an, wo sein Haupt
noch dunkel umwallt war, bis ans Ende, das ihn mit blankester
Kahlköpfigkeit schon einigermaßen senil und gebrochen zeigte.
Und er fand in Ton und Haltung gar glaubhaft das Ver¬
träumte und Vertränke, das etwas Dümmlingshafte und
doch auch leichthin Poetische, das Sympathische und Elegante,
das Melancholische und Schicksalsergebene, wie es diesem Lebe¬
jüngling aus der schönen Donaustadt eigen sein soll. Dazu
ward der Wiener Dialekt in nicht zu aufdringlicher
ärbung festgehalten, so daß in Summa eine köstliche
Gestalt hingesetzt ward, die besonders dartat, wie
gut Herrn Monnard das Gewand des Bonvivant sitzt, und wie
artig und fesch und wohlig er sich darin zu bewegen weiß.
Für die Herzensdamen des wackeren Anatol ließ Herr Dr.
Brahm eine anmutige Galerie aufmarschieren. Und sie alle
erledigten ihre Rollen scharmant: Fräulein Somary als über¬
schwenglich verliebte Cora, Fräulein Lossen als Dame der
Gesellschaft, die nicht den „Mut" zur Liebe hat wie die „süßen
Mädel", Fräulein Sussin als höchst echte, ihre Austern und
Filets mit reizender Gefräßigkeit vertilgende, dann beschwipste
und bezechte und schließlich freche und draufgängerische Annie
in dem schon anderswo oft gespielten „Abschiedssouper",
Fräulein Herterich als rassige Kunstreiterin Bianca und
Frau Triesch als letztes Abenteuer des edlen Anatol,
ehe er Hochzeit machen will, als temperamentvolle,
eifersüchtige, keifende, schreiende und tobende Ilona.
Herr Reicher endlich spielte den ironisierenden und spottenden
und wie eine Art Chorus neben Anatol einherschreitenden
Freund Max recht brav und weise, aber doch ein wenig zu
spießig und hausbacken und nicht flott und lebemännisch genug.
Hier müßte wohl eine jüngere und geschmeidigere Kraft ver¬
wendet werden. Der dekorative Rahmen war von der nötigen
Eleganz; ein verschneites Stückchen Wiener Straße atmete
Stimmung. Die Zuschauer amüsierten sich und gaben dies
am lautesten zu erkennen, wenn die Situation besonders keck
und frivol wurde.