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Frauengestalt, der Schurke ebenso wie der ideal
veranlagte Held von dichterischer Gestaltungs¬
kraft behandelt werden, zeigen die großen Mei¬
ster der Weltliteratur. Das Postulat über die
Art der Behandlung aber hat niemand Gerin¬
gerer als Schiller in seinem bekannten Aufsatze
„Die Schaubühne als eine moralische Anstalt
betrachtet, niedergelegt, wenn man von den
mehr allgemeinen Kunstheorien Lessings und
Aristoteles absicht. Sollte gegen Schiller der
moderne Naturalismus ins Feld geführt wer¬
den, so brauchen wir nur auf Ibsen, den gro¬
ten Meter des naturalistischen Dramas hin¬
zuweisen, der Schillers Forderung in jeder
Hinsicht entspricht. Denn was sich ändert, ist
die Form, der Inhalt aber bleibt derselbe. Man
braucht nur die Werke der großen Dramatiker
von Sophokles angefangen bis Ibsen zu ver¬
folgen, um die stets wechselnde Form und das
gleichbleibende Kunstgesetz zu erkennen. Da
aber den Zeitgenossen die nötige Perspektive
fehlt, so müssen wir die Bewertung Schnitzlers
als Dichter der Nachwelt überlassen, bekanntlich
eine zwar späte, aber gerechte Richterin. Ein
ausgezeichneter Techniker ist Schnitzler jeden¬
falls, wie seine Eroberung der Bühne beweist.
Mit dem Einakterzyklus „Anatole eröffnete
er seine Laufbahn als Bühnenschriftsteller, wel¬
che sich bis jetzt wenigstens so erfolgreich gestal¬
tet hat.
Die Darstellung des Stückes mit seinen
allerdings sehr dankbaren Rollen war ausge¬
zeichnet. Als Spielleiter führt sich Karl
Ander vorteilhaft ein, der auch die Titel¬
rolle, den Anatol mit seinem weiten Herzen
gab. Seine Darstellung wurde den verschiede¬
nen Stimmungen und Launen des „Helden
vollständig gerecht, doch hätte man eine schär¬
fere Nüancierung gewünscht. Sehr ausdrucks¬
voll war Otto Mazels Max, Anatols
Freund und besseres Ich. Die Cora spielte
Emmy Krüger und gelang es ihr, die etwas
heikle Hypnose-Szene natürlich darzustellen.
Eine feine Charakterzeichnung bei Mila
Hartwigs Emilie, doch wäre bei den voll¬
ständig richtig gespielten Affekten eine etwas
zu undeutlich werdende Sprechweise zu ver¬
meiden gewesen. Gut getroffen waren ferner
Lia Meinrads burschikose Annie, sowie Martha
Finklers resolute Ilona. Das ausverkaufte
Haus zollte der ausgezeichneten Darstellung
reichen Beifall.
Das oben zitierte Sprichwort „de gustibus
non est disputandum gilt zwar für den
Kunstgeschmack, nicht aber für das Benehmen
einzelner Theaterbesucher. Da gilt nur der
kategorische Imperativ: Wer ohne Rücksicht
auf das übrige Publikum und auf die Schau¬
spieler mit dröhnenden Schritten sich zu und
von seinem Platze begibt und während der
Vorstellung unbekümmert laute Gesprüche
führt, der gehört nicht in das Theater sondern
gehe ins Wirtshaus.
Dr. —
4.9. Anatol - Zyklus
Berlin N. 24
Ausschnitt aus
Karlsruher Zeitung, Karlsruhe z. B.
6.12 12
Großherzogliches Hoftheater. Gestern abend wurden
zum zweite Mal die drei Einakter von Artur Schnitzler,
Otto Erich Hartleben und Ludwig Thön ausgeführt
Alle drei Stücke: „Weihnachtseinkäufe", „Lore" und
„Lottchens Geburtstag“ sind leicht hingeworfene Plau¬
dereien über ein in unserer Literatur leider alltägliches
Thema, das Erotische. Sie gehören zu jener Art von
Lustspielen, die man nicht „auf Konsolen und unter Glas
stellt; denn zum Besehen sind sie nicht da; man genießt
sie eben wie ein gutes Getränk". Schnitzlers „Weih¬
nachtseinkäufe" sind dem Erstlingswerk dieses zum Teil
erfolgreichsten Wiener Dramatikers, seinem Anatol¬
zyklus, entnommen. In einer Reihe von leicht skizzierten
Bildern läßt uns der Dichter hineinschauen in das
Leben des Wiener Genußmenschen. Der Mittelpunkt
aller ist das Weib, die Quintessenz die Liebelei: das süße
Madel“ mit dem herzigen Gemüt, umgibt er auf Kosten
der übrigen Menschheit mit einer Art Glorienschein,
Nacht und Schatten aber lagern über den Nederungen,
wo die sogenannten anständigen Menschen wohnen. Die
zweite „Episode spielt sich ab zwischen Anatol und
Gabriele, er, der „leichtsinnige Melancholiken", sie die
„Mondaine“. Sie haben sich schon früher gekannt, aber
wieder aus den Augen verloren. Jedes ging seiner
Wege. Heute kaufen beide für Weihnachten ein, er
natürlich für sein Mädel. Sie spottet über die kleine
Welt da draußen „vor der Linie". Aber hinter dem
Spott steckt Neugierde; sie möchte wisser, wie man ihn
dort liebte. Nicht viel berichtet er ihr, denn es ist ein¬
fältig, wenn man dabei die Stimme nicht hört. Aber
Gabriele sieht nur, daß hier noch wahres Gefühl, hin¬
gebende Liebe zu finden ist. Sie spottet nicht mehr
und statt eines aufdringlichen Geschenkes für sein Mädel,
überreicht sie ihm Blumen. — Das alles erzählt der Dich¬
ter in flüssigem Dialog, in flüchtig hingeworfenen,
manchmal fast hingehauchten Worten, so daß über dem
Ganzen eine eigenartige Stimmung lagert, eine
Mischung von alt wienerischer Behaglichkeit und von
Frivolität der modernen Großstadt. Bisweilen klingen
skeptische Laune und leise Sentimentalität ein. Aber
diese Stimmung wurde, trotz des schönen Straßenbildes,
durch das Spiel nicht genügend wiedergegeben; es bot
sozusagen nur die äußere Hülle, nicht die volle, warme
Seele. — Hartlebens „Lore" ist ebenfalls einem Zyklus
entlehnt, den „Befreiten". Das Stück enthält die dra¬
matische „Geschichte vom abgerissenen Knopf", eine lustige
Studentengeschichte. Der Hauptbeteiligte ist der Vetter;
er will die Lore offiziell als seine kleine Liebe annehmen
wenn — der ominöse Knopf endlich wieder angenäht ist.
Vierzehn Tage hat er ihr Zeit gelassen, aber sie besteht
natürlich die Probe nicht — ein schlimmes Zeichen für
ihren Charakter. Und so zerschlägt sichs wieder. Aber
die drollige Lore findet Ersatz in dem über die Ver¬
lobung seiner Dora eben noch untröstlichen Kleinen.
Mit gleichen Füßen springt er aus dem Philistertum
hinein in die Bohème. — Die Darstellung wurde im all¬
gemeinen dem Dichter gerecht, besonders Frl. Alwine
Müller als Lore wußte die seine Grenze zwischen drol¬
ligem Mutwillen und frecher Ausgelassenheit mit grö߬
tem Geschick innezuhalten. Wenn Herr Pleß als Fred
etwas mehr Humor und innerlich leuchtende Fröhlichkeit
verraten hätte, so wäre die Freude an den Gemütsver¬
der anderen noch
.
box 9/5