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to
4.9. An
Zyklus
saren und
meinen nicht sehr bemerkbare Freiherr
kommen lassen
Bela Kun geschenkt worden war, hätten ihm
nach überallhin die tiefste Dankbarkeit bewahrt;
noch in den letzten Achtzigerjahren. Das war
eine Zeit frei vom Gewicht sozialer Probleme,
on.
eine Zeit, in der junge, charmante Müßig¬
gänger blühen und sprießen konnten. Das
m.
war damals, als das leichtbeschwingte, toner¬
fr. Weiß schlie߬
füllte, graziöse Wien der phantastischen Vor¬
ngsumher wirk¬
stellung des Auslandes fast bis zur Realität
dert hat oder
nahe kam. Das Wesen des Wieners war das
in Chaos der
eines sonnigen Sonntages im Frühling. Die
eigenen Person
Wiener sind das liebenswürdigste Volk, wenn
Metamorphosen
die Sonne lächelt. Sie haben ein wahres
in die lachende,
Talent für Lachen, für Melodie, für Kunst,
ge Jugend um
für die Grazie des Lebens. Wenn die Sonne
ung, so möcht
scheint
de wir es in den
Schnitzler kam dann auf die nervösen,
Tritt man aber
unruhigen, schon von fernem Pulverdampf
glaubt zu erken¬
erfüllte Zeiten vor dem Krieg zu sprechen
Jugend, anderes
und auf den Krieg selbst.
schlechteres aber
„Das Jugendliche Wien. Anglosar
Immer wieder
bald wie ein Traum versunken. Vielleicht sehe
von heute mit
ich die Dinge so verändert, weil ich selbst
ken, den jungen
älter geworden bin. Aber ich glaube, daß die
n war, mit dem
heutige Zeit ganz anders ist als die Anatols.
vergleichen. Und
Sie ist im Feuer geschweißt und auf dem
das süße Mädel
Ambos des sozialen Lebens gehämmert wor¬
sind
den. Es ist nicht nur der nationale Krieg, den
Schlachtfeld
ich meine. Auch der Krieg zwischen Klerikalis¬
Hinterlandes.
mus und Liberalismus, Kapitalismus und
nig dieser trauri¬
Sozialismus, Militarismus und Pazifismus
ständlichen Tat¬
tobt noch, und das Schlachtfeld liegt im Herzen
der Vater, besser
und in der Seele, in der Familie und im
tzen Mädel¬
jungen Mann selbst. Bittere Konflikte im
gener Herrn, hat
eigenen Heim, in der Werkstatt, im Freundes¬
amerikanischen
kreis, überall dort, wo früher das Leben nur
in und klar
von seiner spielerischen Seite gesehen wurde.
Und wenn
In großen Zügen entwaf Schnitzler
auch das Mäd¬
ein Bild der Entwicklung Wiens, mit hinge¬
Ergänzung und worfenen geistvollen Worten leuchtete er in
wird, nicht mehr
die tiefsten Herzenswinkel, in die unentwirt¬
barsten Probleme dieser Stadt.
sagte Schni߬
In Wien sind die Walzer von Strauß
surnalisten, „lebte
entstanden, aber Wien hat auch Stahl und
box 9/5
tauschen.
Bauernkomödie von Eugen
Wrany-Raaben.
Lokomotiven, Maschinen und chirurgische In¬
strumente produziert, es hat Beiträge auf
allen Gebieten der Wissenschaft geleistet, die
die Welt nicht von uns, sondern nur von
unseren deutschen Nachbarn erwartet hätte.
Immer hat das Ausland, besonders Nord¬
deutschland, uns „amüsant gefunden und es
wurde eine förmliche Manie der fremden
Zeitungskorrespondenten, alles, was aus
Wien kam, scherzhaft zu behandeln. Bis wir
selbst so empfanden und kein eingeborenes
Talent im Vaterland als Prophet gelten
konnte. Und doch lebt ungeheuer viel Talent
in uns und bei uns. Aber es kommt hier erst
Geltung, wenn es vom Ausland aner¬
kannt wurde. Gustav Mahler mußte das er¬
leben und hundert andere neben ihn. Sehen
Sie nur dies an."
Schnitzler zeigte dem amerikanischen
Journalisten eine Kohlenzeichnung, die auf
seinem Schreibtisch lag. Ein junges, nacktes
Weib, das eben aus dem Schlummer erwacht.
Der Journalist hatte das Empfinden, nie
Vollendeteres gesehen zu haben. Das Bild
schien zu leben, zu atmen, sich zu recken.
„Dies ist, rief Schnitzler begeistert aus,
„das Werk eines jungen Künstlers ersten
Ranges. Aber Wien hat ihm noch keine Auf¬
merksamkeit geschenkt und wird dies wahr¬
scheinlich auch erst auf dem Umwege über das
Ausland tun.
Wieder kam das Gespräch auf den Krieg
und Schnitzler schilderte mit leiser, fast
flüsternder Stimme, was Wien gelitten, seit
dem Tag, an dem Franz Ferdinand ermordet
und das Land unbewußt fast in dieses ent¬
setzliche Blutner geschleudert wurde. Und
kam auf die Zeit nach dem Kriege zu sprechen,
mit ihr Not, ihrem Schlemmertum, der
Verdrängen des wirklichen Wiens durch
Schieber und Händler, die in namenloser
Uppigkeit in den Tag hinein leben und das
es auffallen muß, daß auch die Wa¬
teilnehmenden Traber keine besonders hervor¬
Volk reizen und verbittern. Der Journalist
machte einen Einwand, den man immer wie¬
der hört, wenn man mit Ausländern spricht,
die sich vom Treiben gewisser Kreise ange¬
widert fühlen: „Wie kommt es nur, daß die
Leute sich nicht zusammenrotten und Pflaster¬
steine in die Fenster der Restaurants, Kaffee¬
häuser und Hotels werfen?
Schnitzler lächelte: „Das hat zwei
Gründe. Erstens ist der Wiener nicht leicht
explosiver Art, physische Ausschreitungen lie¬
gen ihm nicht. Die Hauptursache ist aber die,
daß es nicht das Proletariat ist, das so furcht¬
bar unter der Teuerung und dem Schieber¬
tum leidei, sondern die Mittelklassen, die
Leute, die von einem festen Einkommen leben.
Die Arbeiter sind organisiert und können ihre
Löhne wenigstens halbwegs den Verhält¬
nissen anpassen. Aber ich kenne Familien von
Arzten, die hungrig zu Bette gehen. Und diese
Leute werfen keine Steine und schreiten nicht
zur Selbsthilfe. Eine furchtbare Unmoral ist
über Wien gekommen und man kann Leute
sagen hören: „Seit es erlaubt ist, zu
stehlen
Schließlich kam aber Schnitzer doch zu
einem trostvollen Ausblick:
„Der gute Geist Wiens ist krank, aber
nicht gestorben. Noch ist zuviel Jugend in
Wien. Erleichtert Wien die Last, die es auf
seinen schmächtigen Schultern trägt, und es
wich sich wieder erheben. Die Welt soll und
helfen, wir werden es ihr mit Kunst und
Musik, mit unserer Intelligenz, unserem En¬
thusiasmus, unserer Liebe für alles, was
schön und gut ist, mit unseren Maschinen.
unserer Architektur, unseren Arzten und Ge¬
lehrten heimzahlen. Anatol ist dahingegangen,
Anatol ist tot, aber es liegt in der Macht der
großen Staaten, ein neues wertvolles Ge¬
schlecht in Wien heranwachsen zu lassen —.
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