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4.5. Abschiedssouper
box 8/1
E
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Ausschnilt
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Ausschnitt aus:
Fremdenbratt
vom 3/795
Theater und Kunst.
(Raimund=Theater.) Wir haben im Lause der letzten Jahre
in Wien mehr von französischer und italienischer Schauspielkunst kennen
gelernt, als von reichsdeutscher. Diese kuriose Thatsache trat uns
gestern markant ins Bewußtsein bei Gelegenheit der ersten Gast¬
vorstellung des Berliner „Deutschen Theaters“. Eine ganze Reihe
interessanter Schauspieler, Frauen und Männer, machte sich uns bekannt,
und fast Alle — wenigstens nach diesem einen Abende zu urtheilen —
verlohnen die Mühe, sie genauer kennen und schätzen zu lernen. Die Gäste
wollten sich offenbar von der echten Berliner Seite zeigen, als Spezialitäten,
die etwas Besonderes in einer besonderen Mundart zu sagen haben.
So wählten sie denn ein Stück mit ausgesprochenster Lokalsarbe: die
dreiaktige Tragikomödie „Lumpengesindel“ von Ernst v. Wolzogen.
Eine Tragikomödie ist immer etwas Halbes, nicht Fisch, nicht Fleisch,
mehr geeignet für die Lektüre als für die lebendige Wiedergabe —
manchmal auch ein Schlagwort zur Beschönigung eines Lust¬
spiels, das nicht lustig, einer Tragöde, die nicht tragisch genug
ist, um als festumgrenzte Gattung bestehen zu können. Wol¬
zogen führt uns in ein literarisches Zigennermilien, in dem
eine Ehe an der Lüge der Frau — sie hat dem Gatten einen vor der
Ehe begangenen Fehltritt verschwiegen
— zu scheitern droht, aber
rechtzeitig noch zusammengekittet wird. Das Bischen Handlung, das in
engem Rahmen erstaunlich viel Unwahrscheinlichkeit aufhäuft, ist in
einen Milieu=Rahmen gefügt, der von spezifisch berlinerischen Beob¬
achtungen und Scherzen wimmelt. Als Ganzes muß das Stück uns
theilweise unverständlich bleiben, es klingt uns wie aus einer fremden
Sprache übersetzt. Die Mitwirkenden waren durchwegs sehenswerth:
Paula Eberty, Louise Wilke, Annie Trenner, Friedrich
Keyßler, Hermann Nissen Max Reinhardt, Eduand s
v. Winterstein. Zum Schlusse wurde. Arthur Schnitzler'sn
„Abschiedssouper“ (aus seinem „Anatole“=Reigen) gegeben. Nach dem
Berliner das Wiener Mädel. Gisela Schneiderhat Urwiener Töne, die man
nur an Ort und Stelle von der Frau Mutter erwerben kann. Den
Anatole denken wir uns leichter, beweglicher, lebemännischer, als
Hermann Nissen ihn ausgestaltet. Ueber all das, über die Aufgaben.
die die Gäste sich gestellt, und die Art, wie sie sie zur Lösung bringen.
wird nach Manches zu sagen sein. Wir haben gestern nichts Neuem
begegnet, aber einer Menge von Tüchtigem und Beachtenswürdigem
vom ¾ 60
Theater, Kunst und Literatur.
Das Berliner Ensemblegastspiel am Raimund¬
Theater.
Gestern eröffneten die Gäste vom Berliner Deutschen;
Theater ihr hoffentlich auf recht lange Dauer berechnetes Gast¬
spiel. Man kenut und schätzt in Wien die Kunst dieser aus¬
gezeichneten Truppe von ihrem seinerzeitigen Gastspiel im
Ausstellungstheater her. Drei Mitglieder dieser Bühne, Else
Lehmann, Hermann Niessen und Georg Engels, haben inzwischen
triumphgekrönte Gastspiele am Burgtheater absolvirt und zwei
andere, die reizende Retty und Josef Kainz, sind inzwischen
ganz die unseren geworden. Wenn das gegenwärtige Gastspiel
dazu führen sollte, das ein oder das andere Mitglied des
Ensembles des Berliner Deutschen Theaters dauernd für Wien
gewonnen werden könnte, wäre das jedenfalls mit lebhafter
Freude zu begrüßen, denn, man hat es in Berlin verstanden,
die durch das Ausscheiden der genannten Kräfte zum Theil
entstandenen Lücken größtentheils durch vollwerthigem Nach¬
wuchs wieder zu schließen. Wir behalten uns vor, auf die
gestrige Novität Ernst von Wolzogen's Tragikomödie
„Das Lumpengesindel“, und die Leistungen der Berliner Gäste,
welche der Novität auch noch Schnitzler's „Abschieds¬
soupe“ folgen ließen, noch ausführlich zurückzukommen,
und constatiren heute nur den durchschlagenden, ge¬
radezu sensationellen Erfolg des gestrigen Abends.
Für 5
Es gab nach den Actschlüssen unzählige Hervorrufe, jusive
die in erster Linie auf Rechnung der Damen Paula Eberty orto.
20 und Gisela Schneider, sowie der Herren Hermann hlbar
50 Nissen, Max Reinhardt, Eduard v. Winter=Voraus.
„ 100stein, Paul Biensfeld und Richard Vallentin,
zu setzen sind. Auch Ernst v. Wolzogen hat seinen an= ist das
Abonn
gemessenen Antheil an den Trinmphen des gestrigen Abendes, ht es den
1.
Abonn
Regisseur Waldemar Runge hatte Gelegenheit, in seinem
Namen für die freundliche Aufnahme, die der Novität bereitet
wurde, zu danken. Das Zischen einiger Juden, die, wie die
Foyergespräche im Zwischenacte verriethen, darüber empört
waren, daß in dem Stücke ein jüdischer Commerzienrath von
zwei Schriftstellern, deren Gesinnung er vergeblich zu kaufen
sucht, unsanft an die Luft gesetzt war, vermehrte nur die Bei¬
fallslust der Mehrheit des Publikums. Für unsere
Freunde, die sich in der verflossenen Saison wiederholt
die Aufführung von Stücken bieten lassen mußten, in denen
Officiere und Aristokraten unter dem Beifall der sattsam be¬
kannten Clique von Juden geohrfeigt werden, wird der
Umstand, daß uns die Berliner einmal
ein Stück vorführen, in dem das Börsen¬
judenthum geschildert wird, wie esist,
sowie die Thatsache, daß unsere Gästeden
Judenauch sozuspielen wagen, wiewir
ihnkennen, ohne jede carikirende Uebertreibung, aber
auch ohne idealisirende Entstellungsversuche, hoffentlich
ein neues Reizmittel sein, die Vor¬
stellungen des Gästeensembles zu be¬
suchen. Man hat in Deutschland unseren Landsleuten —
unsere Hansi Niese weiß auch davon ein Lied zu singen —
eine geradezu enthusiastische Aufnahme bereitet. Wohlan,
revanchiren wir uns, indem wir das Unternehmen unserer
Berliner Gäste durch einen Massenbesuch fördern helfen, zumal
unsere Gäste, wie wir nochmals mit allem Nachdrucke betonen
möchten, ausgezeichnete Kräfte in ihrer Mitte haben, deren
Besitz jedem Wiener Theater zur Ehre gereichen würde.
H P.—