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Nr. 193.
Seite 13.
Wien, Sonntag
Fremden¬
-latt.
16. Juli 1899.
dor, wo er mit welten Schriten aus der Birlichtit Hinaustrit, wie
in „Hannele“ oder „Die versunkene Glocke“. Will man erfahren, wie
Feuilleton.
die heutige Literatur das Wesen des Theaters umgestaltet hat,
braucht man eben nur ein Dutzend Berliner Schauspieler zu beob¬
Die Berliner im Raimund-Theater.
achten, wie sie am Raimund=Theater aufgetreten sind.
Wenn in früheren Zeiten ein dramatischer Künstler aus der
Sage mir, mit welchen Autoren Du umgehst, und ich sage Dir,
Ferne bei uns auftauchte, um seine Kunst zu zeigen, so bedeutete
wer Du bist — vielleicht darf man ein altes, banales Sprichwort in
sein Erscheinen ctwas ganz Anderes, als man heutzutage von einem
solcher Umänderung auf die dramatischen Künstler anwenden. Der
theatralischen Gastspiele erwartet. Der Fremde brachte Abwechslung,
Umgang der Berliner Gäste ist mit ein paar Worten zu kennzeichnen.
er brachte Unterbrechung des Gewohnten, und wenn er wirkliche Be¬
Sie brachten in Wien „Gespenster“ und „Hedda Gabler“ von Ibsen,
gabung an den Tag legte, so war man es zufrieden, und Niemand sah
„Lumpengesindel“ von Wolzogen, „Das Abschiedssouper von
sich in extravaganten Erwartungen getäuscht. Nicht, als hätte man in
Geographie und Liebe" von Björnson,
Schnitzler,
halbvergangenen Tagen keinen Geschmack oder kein Urtheil gehabt, aber
Das Friedeisfest“ von Hauptmann und „Die Macht
man stand der künstlerischen Leistung noch als harmlos Genießender
der Finsterniß“ von Tolstoi. In allen diesen Stücken blieb eine
gegenüber, und über den Genuß hinaus begehrte man nichts. Man
Seite des Erfolges ihnen treu: der herrliche Effekt des Zusammen¬
freute sich am bel canto in der Oper, am Koloraturschauspieler im
spieles, des Ineinanderklingens. Wir verkleinern Niemandes Verdienst,
Drama. Wie hat das Verhältniß des Publikums zur Bühne sich im
auch nicht das des Regisseurs Herrn Woldemar Runge, wenn wir
Laufe der Jahre geändert! Wir verlangen jetzt von dem Gaste das
die Bemerkung anfügen, daß bei einer Vereinigung so moderner
Besondere, das wir in der Heimat bislang nicht finden konnten; aber
Künstler ein tadelloses Ensemble etwas Selbstverständliches ist. Das
nicht Vorliebe für das Außerheimische oder Mißfallen an dem in loco
sogenannte Milieustück, gespielt von sogenannten Milieukünstlern, besteht
Gebotenen leitet uns, nein, ein markanter Zug, der durch das ganze,
ja nur, wenn die tausend Räderchen des komplizirten Uhrwerkes tadellos
allgemeine geistige Leben geht, wirkt dabei leitend auf uns ein: In der
ineinandergreifen. Aeltere Schulen in Dichtung und Darstellung ver¬
Kulturmenschheit lebt eine Sehnsucht nach dem Neuem von dem sie
leiteten oft, drängten vielleicht manchmal den Einzelnen dazu, sich mit
sich alles Heil erhofft; sie meint, ihr werde endlich Antwort gegeben
aller Wucht aus dem Rahmen heraus zu betonen. Der dramatische
werden auf all die Fragen, die dem Menschen bisher ungelöst
Tenorist, von den Akkorden seines verführerischen Monologs berauscht,
blieben; sie hegt den Glauben, das Morgenroth des kommenden Jahr¬
löste sich stolz von der Gesammtheit ab. In den Stücken unserer Zeit,
hunderts werde die Schatten hinwegscheuchen, die zur Stunde noch auf
denen die Solo=Arie fremd geworden ist, hängt das Schicksal eines
der Seele von Millionen lagern; sie ahnt das große Glück, die große
Aufzuges, vielleicht des Stückes davon ab, daß Niemand zu laut die
Erfüllung, sie rechnet, wie Ibsen's Nora im kleineren, persönlichen
Stimme erhebe, daß kein falscher Tritt ein störendes Geräusch ver¬
Kreise, auf das „Wunderbare“; was durch tausende Lebensalter versagt
ursache, daß eine Pause im Gespräche genau nach Vorschrift eingehalten,
war, die nächste Zukunft soll es bringen. Man verspürt ein universales
nicht zu rasch abgebrochen, nicht zu lange hinausgezogen werde Einer
Gähren und Drängen, man hört mächtige Flügelschläge und weiß noch
muß sich da sorgsam nach dem Anderen richten, sonst verscheczt er
nicht, was und wen sie ankündigen... Und da jede Kunst innig mit
sich und ihm die gewünschte Wirkung; was tagelang ausgetüftelt
der Wirklichkeit zusammenhängt — gleichviel, ob sie diese veredeln oder
wurde, um das Wort durch den szenischen Behelf zu unterstützen, wäre
abschreiben oder verzerren will — wirft die fin de siecle-Stimmung
zerstort, wenn es einem Mitwirkenden einfiele, sich auffällig zu markiren.
ihre Streiflichter auch auf die Bühne, und so erheben sich Ansprüche,
Und das Dekadente, das an der Tagesordnung ist, legt dem
die in der Luft liegen, auch wenn Niemand sie in Worte faßt. Viel¬
Künstler auch gar nicht die Versuchung nahe, sich auf Kosten seiner
leicht gehen wir heute so weit, uns in den Kopf zu setzen, irgendeine
Genossen zur Geltung zu bringen. Ein Dichter wie Gerhart Haupt¬
Kunst werde uns das Leben erklären können.
mann ist ein thurmhohes Hinderniß für alles Virtuosenthum; er
fordert unendlich viel von dem Schauspieler, aber er fesselt ihn an die
Es ist nach alledem nicht erstaunlich, wenn die Wiener mit boch¬
Umgebung, er schmiedet ihn mit den Uebrigen zusammen, und dabei
gespannten Anforderungen an ein Gastspiel herantraten, das uns mit
stellt er eine so ausgedehnte Reihe von szenischen Vorschriften auf. daß
einer der meistgeltenden Pflegestätte der modernsten Moderne bekannt¬
die sorgsamste, feinste Pflege des Milien, die Herstellung der aus¬
machen soll. Das Deutsche Theater in Berlin hat den Ruf,
gesuchtesten Einheitlichkeit ein natürliches Postulat wird.
neuesten Inhalt in neuester Form zu bieten. Und nun kommt eine
Gruppe seiner Mitglieder und verheißt Proben ihrer Besonderheit. Ob
Sozusagen als Verein, als Körperschaft müssen die Berliner
der
gerade sie uns schenken können, was wir auf dem Gebiete
Gäste rückhaltlos anerkannt werden. Darauf haben sie ein gutes Recht.
dramatischen Kunst suchen: das Gewesene, sieghaft Ueberwindende?
Zerlegen wir aber den Strauß und nehmen Blume für Blume zur
Wir haben die Gäste sechsmale, und zwar gewiß — das
Hand, dann wird es uns schwer, unseren Beifall zu individualisiren,
setzen wir von ihrer Geschäftsklugheit voraus — in ihren bewährtesten
ja es drängt sich uns manche Einrede auf die Lippen. Um ein
Vorstellungen gesehen, und wir bekennen, daß sie in ihrer Art merk¬
Beispiel zu geben: Von Herrn Rittner hatten wir Wunder sagen
würdig sind, aber die Heilande der Bühne sollen erst noch kommen,
hören, und sein Oswald Alwing in „Gespenster“ bereitete uns eine
die erlösende und befreiende That steht noch aus. Die Berliner Gäste
Enttäuschung. Er spielte den vom Dichter mit dem Todesmale Ge¬
lassen Denen, die nach ihnen kommen werden, noch etwas zu thun
zeichneten mit einer freundlichen Gleichgiltigkeit, die der Schlu߬
übrig. Aber nur das krasseste Uebelwollen könnte leugnen, daß diese
katastrophe nicht genügend vorgearbeitet hatte. Es war, als fände er
Mitglieder des Deutschen Theaters interessant sind bis in die Finger¬
es überflüssig, den Zustand des jungen Alwing glaubhaft zu machen.
spitzen. Im Ensemble und in den Einzelleistungen machen sie Dinge,
Vielleicht geht Zacconi — der effektvollste Oswald — zu weit,
die vor zwanzig Jahren Niemand hätte wagen dürfen, namentlich nicht
wenn er alle erdenklichen pathologischen Finessen auf die Szene bringt
in Wien, wo dem harmonisch Schönen immer Altäre, geschmückt mit
und uns nichts erspart, was der Neuropath als wahrheitsgetreu be¬
süßduftenden Rosen, errichtet waren. Noch heute — auch wenn wir
stätigen muß, aber Herrn Rittner's Oswald ist im schlimmsten Falle
es nicht Wort haben wollen — schwelgt unser Ohr gerne in der
unwohl und läßt kein so jähes und tragisches Ende erwarten. Herr
Nissen entwickelte in Wolzogen's „Lumpengesindel“ als Polizeiwach¬
Euphonie von Schiller's Jambenschwung, und wir verlieben uns nach
wie vor leicht in den Klang einer edel abgetönten Kehle. Von den Gästen,
meister Polke eine treffsichere, mit etwas Selbstironie versetzte Berliner
wie wir sie kennen gelernt haben, möchten wir „Faust“ oder „Don
Komik. Dann aber als Bonvivant in Schnitzler's „Abschiedssouper“
Carlos“ oder „Sappho“ um Gotteswillen nicht sehen und hören, ob¬
ließ er Leichtigkeit und Anmuth vermissen, war er Champagner ohne
zwar es ja möglich ist, daß sie auch den Vers zu meistern verstehen.
Mousseux. In „Geographie und Liebe“ arbeitete er den Professor
In romantischer oder klassischer Maskerade stellen wir sie uns
Tygesen, den egoistischen, seine Familie tyrannisirenden Bücherwurm
psychologisch sehr klar und beredtsam aus, aber etwas Ueberraschendes
ehrlich gestanden — unmöglich vor. Sie sind denn auch klug genug,
sich ein Repertoire zu wählen, in dem sie sich geben dürfen, wie sie
war nicht zu entdecken. Im „Abschiedssouper“ verrieth Gisela
sind: Leute, die mit den Nerven auf die Nerven spielen; keine Ab¬
Schneider als wienerische Ballerine lebhaftes Theaterblut, machte
gesandten der Menschheit à la Posa, sondern auf sich selbst gestellte
aber einen so argen Lärm, haute derart über die Stränge, daß die
Zuhörer zu keinem ruhigen Genusse gelangten. In „Geographie und
Persönlichkeiten die mit sich selbst zu viel zu thun haben, um sich auch
noch um die Millionen ringsumher bekümmern zu können; Indi¬
Liebe“ mäßigte sie sich und ging mit dem arg, aber mit Recht durch¬
vidualisten, die unbefriedigt durch Kunst und Leben gehen und leicht
gefallenen Stücke vorüber, hierauf verschwand sie überhaupt und ward
und frühzeitig ermüden.
nicht mehr gesehen. Fräulein Dumont, eine der unzähligen Künst¬
Die Dramatiker und ihre Interpreten bedingen einander. Es ist
lerinnen, die auf dem heißen Boden des Burgtheaters nicht ausharren
mochten, machte den Eindruck, daß sie draußen viel gelernt und
eine Art von Wechselzeugung. Der Autor macht den Schauspieler, der
Schauspieler den Autor. Die heutigen Bühnendichter bedingen eigene
sich mit anschmiegsamer Versatilität in den neuen Styl hineingefunden
Formen der Darstellung, und diese hinwieder weist dem dichterisch
hat. Nur von zweien dieser Gäste möchten wir behaupten, daß sie,
Schaffenden die Wege, denen er sich kaum entziehen kann. Gerhart
auch vom Ensemble losgelöst, sich dauernd der Erinnerung einprägen:
Hauptmann verlangt andere Künstler, als sie für Grillparzer nöthig
Paul Biensfeldt und Max Reinhardt. Als Robert Scholz
waren. Gerhart Hauptmann wüßte nichts mit einer Schröder¬
im „Friedensfest“ war Herr Biensfeldt wirklich bedeutend durch sein
Devrient oder einem Josef Wagher anzufangen, nicht einmal tief verinnerlichtes Spiel, das den Charakter nach und nach entfaltet,