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Das Maercher
bor 7/2
3.
Dr. Max Golas¬
Büro für Zeitungsausschn.
Telefon: Not¬.
BERLIN N4
Bessische Seilung, Berlin
1 # Marz 1925
Schnitzlers „Märchen.
Erstaufführung im Lessingtheater.
Vor etwa einem Menschenalter — noch bevor ihm der dra¬
matische Meisterwurf „Die Liebelei“ gelungen war — schrieb
Arthur Schnitler das Schauspiel „Das Märchen“, das auf
mancher Bühne heimisch geworden, aber merkwürdigerweise erst
vorgestern zum erstenmal in Berlin gegeben wurde. Das Milien
der Wiener Halbwelt (was man beileibe nicht mit Demimonde
übersetzen darf), die Voraussetzung eines bürgerlichen Kreises von
bequemeren und freieren Lebensformen als die sogenannte „Ge¬
sellschaft“, ist in diesem Märchen ebenso glücklich getroffen wie
in der „Liebelei“; aber das Kernmotiv ist schwächer gefaßt und
tritt zu stark gegen das Zuständliche zurück. In der ergreifenden
Tragödie des geopferten Mädchens wurzelt die ganze Entwicklung,
in den Charakteren, im Verhältnis zwischen dem törichten Lebe¬
jüngling und der in Wahrheit „süßen“ Geliebten. Im „Märchen“,
einer Gesellschaftssatire gegen das klätschige Vorurteil, das der so¬
genannten „Gefallenen“ den Anspruch auf ein einheitliches Lebens¬
und Liebesglück bestreitet — zugleich einer literarischen Satire
gegen die französische Komödie, die sich ausschließlich um die anato¬
mische Unschuld dreht —, wird die Tendenz lehrhafter und red¬
seliger, so daß die Menschen ihr nur zu dienen scheinen. Das
schwächt, zumal in dem schwanken, unmännlich=mönnlichen Ver¬
treter der „Gesellschaft“, die entscheidende Wirkung ab.
Der Dichte läßt sich immer mehr auf eine Ebene mit dem
schwächlichen Typus drängen; er legt dem angeblichen Reformator,
der das Poructeil gegen das Weib mit einer „natürlichen“ Ver¬
gangenheit für ein Märchen erklärt, die überzeugten Worte einer
freieren Anschauung in den Mund und läßt ihn doch unter jedem
Anhauc, einer Lebensprüfung, die ihm seine angebliche Ueber¬
zeugung auferlegt, so kläglich erzittern, daß wir allgemach jedes
Interesse an diesem Scheinhelden verlieren und ohne das Gefühl
eines Kampfes an die Seite des Mädchen treten, das ein ehren¬
volles Engagement in der Ferne einem Leben der dauernden
Buße und Demütigung vorzieht. Als Halbtragödie greift dieses
Schauspiel nicht eben tief, aber als Sitten= und Lebensbild von
echt wienerischem Kolorit hat es mit der „Liebelei“ und mit den
Anatolstücken Vorzüge der Wahrhaftigkeit und des Witzes gemein,
die das Interesse an den Vorgängen nie völlig erlahmen lassen.
Es ist auch, beiläufig bemerkt, in der satirischen Tendenz nicht
gealtert, wenn auch manches jüngere Stück das Motiv des Gesell¬
schaftsmärchens im pathetischen Wort radikaler zu fassen scheint,
ohne indes einen so feinen Sinn für die märchenbildende Sub¬
stanz des sozialen Vorurteils zu bekunden.
Was an diesem Schauspiel gesund ist — die echt Schnitzlersche
Ironie in der Darstellung der kleinbürgerlichen Lebenskreise, die
sich an der Schwelle des Theaterruhms zusammendrängen —, hat
vorgestern auch in Berlin durchschlagend gewirkt und die Teil¬
nahme immer wieder aufgerüttelt. Das war im Rahmen einer
nichts weniger als vollkommenen Aufführung durch die inter¬
essante Darstellung der jungen Schauspielerin, die im Mittelpunkt
des Märchens steht, ermöglicht. Camilla Spira hat dieser
Fannr, die zwischen bußfertiger Ergebung in das Märchen und
einem letzten Rest jugendlich stolzen Freiheitsdranges schwankt,
in Erscheinung und Ton etwas zuviel von einem Trutzmädel mit
einem kindlichen Bubenkopf gegeben, so daß man an die Mo¬
mente ihrer willfährigen Demut nicht recht glauben konnte, aber,
so sehr sie auch die nur kämpfenoe Streitbarkeit zu einer alle
Zeit sieghaften verstärkte und so einseitig sie in der leidenden Frau
das trotzige Kind von gestern betonte, so lag doch in dem ganzen
schauspielerischen Wurf der Gestalt eine innerliche Energie, ein
gewinnender Mut sich zu behaupten, der bieser jungen Künstlerin
Aufmerksamkeit und Sympathie sicherte. Es steckt in ihr eine
originelle Persönlichkeit, die sich nicht ganz mit der Rolle deckte,
die aber der Künstlerin eine Bühnenzukunft verheißt, eine Kraft,
die in der Energie des Gefühls das Theater vergessen läßt und
eben darum dem Theater Wesentliches bieten kann.
In der freilich weit minder günstigen männlichen Hauptrolle
war Kurt v. Möllendorff, ein unverkennbar sorgsamer und
verständnisvoller Schauspieler, nicht an seinem Platz. Zu schwer
in der Erscheinung, zu nachdrücklich ernst in der Reaktion auf
jede leichte Reizung, zu bedächtig in der Nachgiebigkeit eines be¬
stimmbaren Naturello, suchte er aus dem Schwächling einen in
sich beruhenden Mann zu machen und ließ dadurch die Pedanterie
des Mißtrauens um so antipathischer erscheinen. Auch für die
Regie des Abends fehlte diesem Darsteller offenbar die Leichtig¬
keit, hinter der sich die Arbeit verbirgt. Einzelne Gestalten, wie
der egoistische Lebemonn, den Erich Kaiser=Titz mit munterem
Humor darstellte, und der Philister Wandel, dem Lettinger
alle Kanten und Ecken des begrenzten Wesens gab, auch der
selbstzufriedene, gutmütig derbe Maler Otto Webers hatten an¬
nähernd Schnitzlerische Prägung; andere, wie etwa der Theater¬
agent Moritzki, der anstatt des von Schnitzler vorgezeichneten
leicht polnischen Akzents, die Andeutung des jüdischen Jargons
bevorzugte, schienen zumeist aus einer andern Welt zu kommen.
Trotzdem ging von den Hauptszenen eine starke Wirkung aus,
und das „Märchen“ Schnitzlers wird wohl kaum wieder von
unseren Bühnen verschwinden.
A. K.