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Das Maerchen
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Theater- und Kunstnachrichten.
Deutsches Volkstheater.
(„Das Märchen“ Schauspiel in drei Akten von Arthur Schnitzler."
Zum erstenmale aufgeführt am 1. Dezember.)
Es war einmal! So fängt bekanntlich jedes
Märchen an. Auch durch Arthur Schnitzler's
„Märchen“ klingt im Anfange das hergebrachte „Es
war einmal“. Es war einmal, daß wir Männer uns
das Recht anmaßten, „Unnatürliches zu fordern — ein
Weib zu verachten, weil es gewagt, zu lieben, bevor
wir um ihre Liebe warben — ja ein Weib, für das u
wir weiter gar nichts erpfinden, einfach aus der
Gesellschaft unserer Mütter und Schwestern auszu¬g
schließen, sie hinabzustoßen und sie zu verderben, um sie
dann eine Verlorene zu nennen?“ Das ist das Mär¬
schen und der schwärmerische Träumer Fedor will es 9
„aus der Welt schaffen dieses Märchen von den Ge¬
fallenen, denn Sehniucht nach Reinheit
— was ist siek
denn? — Wir wollen nur die Ersten sein, diese Rein=
heit zu besudeln.“ Auf dieser These baut Schnitzler sein
Schausviel auf, und da er sie mit so geistvoller
Dialektik vorbringt, erwarten wir natürlich, daß
er uns, wenn nicht überzeugen,
odoch wenig= 9
stens blenden, einen Augenblick lang in unserer 9
##genen Ueberzeugung schwankend machen wird. Allein, u
der Dichter täuscht uns, wie Fedor die Heldin des p
St#tes, die kleine Vorstadtschauspielerin Fanny Theren,
enttäuscht, sie, die Gefallene, die sich an der Liebe Fedor's k,
aufrichten will und dann im entscheidenden Augenblicke o
von dem beredten Anwalt der freien Liebe mit den
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grausamen Worten zurückgestoßen wird: „Es gibt keinen
Kuß keusch genug und keine Umarmung glühend genug
und keine Liebe ewig genug, um die alten Küsse und die u
alte Liebe auszulöschen. W#s war ist! Das ist der tiefez
Sinn des Geschehenen.“ Fanny ist wieder einmal ver¬ E
lassen worden. „So muß es nun weiter gehen.“ Alsosfi
das „Es war einmal“ klingt in Schnitzler's Märchen j
ganz wider Erwarten in dem „Es ist einmal so“ aus, g.
und das Schlimme ist, wir wissen am Schlusse nicht,
wollte der Autor uns mit seinem Stücke sagen: Es soll
so sein, oder es sollte nicht so sein, wie es war und ist.
Arthur Schnitzler ist eines der Häupter der jungen 9
ich¬
Dichterschule in Oesterreich. Das würde nicht viel be¬ K
lus
sagen, denn die Jünger dieser Schule fühlen sich alle 2
rd¬
als Häupter. Schnitzler jedoch ist mehr, er ist ein Kopf, 9
sse.
und zwar ein seiner Kopf, der die Problen# der
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Frauenseele mit scharfem Auge erfaßt und ihre innersten h.
der
Vorgänge so klar und auch so muthig bloßlegt, daß er das
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Vorurtheil der Gegner niederzwingt, und zum Mindesten
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fesselt, wo er nicht bekehren kann. Doch er will gar nicht ei
ze= bekehren, und darin eben liegt die Schwäche des I
Märchens. Das mit so glänzender Beredsamkeit und r
er
überlegenem Geiste geführte Plaidoyer für die Er= si
nd
hebung der gefallenen Frauen nimmt plötzlich eineke
er
solche Wendung, daß, wie jener Klient seinem Ver¬
ite
theidiger, die Verlorene des Stückes am besten thäte,
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ihrem Dichteranwalte zuzurufen: Um Gottes willen,
Herr Doktor, hören Sie auf, sonst bekomme ich fünf
Jahre mehr. Wenn der Autor schen seine These in r
Stich läßt, so hätte er diese Treulosigkeit doch dra¬ R
nd
matisch begründen, die Handlung so führen müssen, Z
daß der Umschlag durch äußere Vorgänge verständlich
wird. Aber an die Stelle einer dramatischen Entwick= si
lung setzt Schnitzler das Wort, und das Wort allein,
sei es noch so geistvoll, kann von der Bühne herob
nicht wirken. Darum zerflattert auch das Märchen
mit dem dritten Akte vollständig, trotzdem Fräulein
Sandrock als Fanny eine künstlerische Glanzleistung
ersten Ranges bot. Auch der übrigen Darstellung läßt A
sich viel Gutes nachrühmen. Herr Nhil wußte an dem P
zerfallenen Charakter des Fedor die wenigen sympathi¬ ri
schen Seiten mit anerkennenswerthem Feinsinn voll fi
auszuprägen, die Herren Kutschera und Giam¬
pietro boten als junge Wiener Lebemänner ein gar
9
geradezu köstliches Genrebildchen, und die Herren
be
Tewele, Meixner, Weisse, Eppens sowie
die Damen Berg, Gribl, Bock und Hell führten
ihre episodischen Rollen durchwegs mit schönem Erfolge N
durch. Die Darsteller und die Direktion des Volks= (
theaters verdienen alles Lob für die Sorgfalt, die sie (?
an die Aufführung des zwar unfertigen, aber von be¬
ri
deutendem Talente zeugenden Werkes eines jungend,
Wiener Autors gewandt haben. Was Arthur Schnitzler
3
heute noch nicht ganz ist, ein fertiger Bühnendichter,
das wird er zweisellos werden, und dann wird es ihn m
wohl auch nicht mehr schmerzen, wenn er von seinem
ch, „Märchen“ wird sagen müssen: Es war einmal. Bz.
Tristan und Isolde.
ssi
Theater, Kunst und Literatur.
Deutsches Volkstheater.
Herrn Arthur Schnitzler's „Märchen“, das an
einem Unglücksfreitag über diese Bühne ging, nennt sich
ein Schauspiel und kommt über diese erste Unwahrheit.
nicht mehr hinweg. Denn es ist kein Schauspiel, weil es
überhaupt kein Theaterstück ist, sondern eine handlungslose
Zusammenstellung von Betrachtungen über ein sittlich¬
sociales Thema. Es findet sich unter jenen Betrachtungen
manches gute Wort von ernstem Gehalt. Der Verfasser
hat aber die Geschmacklosigkeit begangen, seine Abhand¬
lung dialogisirt auf die Bühne zu bringen und das ist ein
Mißbrauch des Theaters. Er hat sich im Forum geirrt
und darauf gebührt nach alter Proceßregel nur die
recusatio a limine. Das Publicum hat denn auch
das Stück ab instantia abgelehnt. Es hat über die
mit ermüdender Eintönigkeit einander folgenden Ein¬
reden und Gegeneinreden, Repliken und Dupliken
des Streitfalles — ob man ein gefallenes Mädchen
heiraten darf
gar kein meritorisches Urtheil gefällt,
sondern sich bei dem ewigen Wechsel gesprochener Satz¬
schriften schlankwet gelangweilt. Da darf man es dem
Publicum nicht verdenken, wenn es manches Werthvolle
übersah. Werthvoll ist vor Allem die Gestalt des Jammer¬
helden Fedor Denner, der theoretisch sich für die These
begeistert, daß man eine Gefallene ehelichen darf, dann
aber, wo er selbst die These praktisch erproben soll, mit
einem verzweifelten „Es geht nicht!“ zusammenbricht. Das
ist wahr und echt durch und durch. Aber das Publicum
kam, wie gesagt, nicht dazu, es zu würdigen. Die Schau¬
spieler litten unter dem quälenden Bewußtsein, ihr Ver¬
mögen an eine verlorene Sache zu verschwenden und
spielten mit sichtlicher Ueberwindung. Wir fürchten, es
wird von diesem „Märchen“ heißen: „Es war einmal“
höchstens zweimal.
Theater= und Kunstnachrichten.
Wien, 1. December.
[Deutsches Volkstheater.] „Ueberhaupt was man
jetzt Alles sagen darf!“ meint Adalbert Wandel in dem Schau¬
spiele „Das Märchen“ von Arthur Schnitzler, das heute ohne
durchgreifenden Erfolg an dieser Bühne zur Aufführung kam.
Man könnte kaum ein passenderes Motto für die seltsame Dich¬
tung finden. Ein sehr alter Streit wird in diesem Drama ange¬
facht, freilich nicht, wie dies in der „überwundenen Epoche“ üblich
war, mit bühnenmäßigen Mitteln, nicht durch wirkliche und
lebendige Gestaltung des Stoffes. Der Autor begnügt sich, einige
kampfeslustige Schlagworte über freie Liebe, die Schablone der
herrschenden socialen Anschauung und die Krücken der Gewohn¬
heitsdenker, aus dem Dialoge aufflattern zu lassen, und gefällt sich
in einigen gewagten Scenen, die, um wieder mit einem Worte
der Novität zu sprechen, „vielleicht über das Vorurtheil,
sicher nicht über die Brutalität hinausgekommen sind". Das
„Märchen“ beginnt sehr stimmungsvoll in der kleinbürgerlichen
Wohnung der Frau Theren. Ein einfaches Milien; Kunst und
Bühne schauen interessant herein. Die Tochter des Hauses ist
Schauspielerin, dadurch wird das Wohnzimmer der Familie zu
einem offenen Salon für die gemischte Gesellschaft; Künstler Lebe¬
männer, Dichter, Theater=Agenten führen die üblichen Salon¬
gespräche. Die alte Welt kommt hiebei sehr übel weg, freilich
gestehen die Stürmer und Dränger in Frack und Salonrock,
„daß die Jungen durchaus nicht reif für die neue Zeit
sind!“
„Das ist unsere tragische Schuld!“ meint Fedor
Denner, in dessen Mund der Dichter die eigenen Anschauungen
legt. „Das Märchen“ hat diese Schuld leider auch Andere büßen
lassen. Im Salon Theren werden alle Fragen des Tages auf¬
geworfen, man spricht über bildende Kunst, gesellschaftliche Beziehun¬
gen, zum Schluß — darin liegt gewiß Lebenswahrheit — über das
Theater. Ein Stück, das in Vorbereitung ist, gibt den Anlaß
hiezu. „Es behandelt ein Thema, über das wir schon lange hinaus
sind.“ — „Ueber was sind wir noch nicht hinaus?“ — „Und dies
Thema?“
„Das der Gefallenen.“ — „Sie wird für ewig die
Gefallene bleiben!“ — Der Held ist anderer Meinung. „So!“
ruft er. „Und wir Männer, die wir unsere Liebe oder was wir
dafür ausgeben, hundertmal verschwendeten; wir, die wir feile
Dirnen im Rausch umarmten; wir, die wir Weiber um einer
flüchtigen Stunde willen für ewig betrogen; wir, die wir die ge¬
meinsten Wüstlinge oder die feurigsten Liebhaber waren, wir haben
nun einmal das Recht, jenes Weib zu verstoßen, weil es die
Kühnheit gehabt, zu lieben, bevor wir erschienen? Nein, wir haben
das Recht nicht, Unnatürliches zu fordern — ein Weib zu ver¬
achten, weil es gewagt, zu lieben, bevor wir um ihre Liebe warben
ja, ein Weib, für das wir weiter gar nichts empfinden, ein¬
fach aus der Gesellschaft unserer Mütter und Schwestern auszu¬
schließen, sie hinabzustoßen und sie zu verderben, um sie dann eine
Verlorene zu nennen! Es ist nicht nur dumm, es ist grausam. Und
es ist Zeit, daß wir es aus der Welt schaffen, dieses Märchen
von den Gefallenen! Wir müssen aufhören, sie zu peinigen und
ihnen zu sagen, daß sie anders sind wie die Anderen!
Wir
dürfen ihnen nicht zurufen: Büßt, büßt, denn ihr habt schwer
gesündigt! Wir müssen ihnen die nagende Reue von der Seele
nehmen, die ihnen nichts nützt, uns nichts nützt und sie