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3. Das Maerchen
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TSSE
Blätter für literarische Unterhaltung.
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Stellung befindlich, und im Innern mehr auf Seiten der
er für rein hält. So lange er nichts von ihrer frühern
Verbündeten als der Franzosen, gegen den Befehl ihres
Verschuldung weiß, spricht er mit heiterer Ueberlegenheit
Königs von Napoleon abfallen und zu den Verbündeten
von dem Märchen der Gefallenen; dann als er über das
Vorleben Fanny's aufgeklärt wird, wird ihm das Märchen
übergehen. Der Stoff ist nicht unglücklich gewählt und
bietet für einen Meister historischer Charakteristik genug
eine Wirklichkeit, ein seelisches Hinderniß, über das er
gewaltige und feine Stimmungen, die lebhaft interessiren
nicht hinweg kann. Er vermag dem Mädchen nicht zu
könnten, und wel auch den gewaltigen Accord, den der
verzeihen, er vermag aber auch nicht ihrem
lichen
Titel des Stückes verspricht, den vaterländischen, hervor¬
Zauber auszuweichen, er wird selbst ihr Geliebter. Das
rufen dürften. Aber Riffert hat dem Stoffe nicht das
Märchen von den Gefallenen erscheint ihm nicht so lügen¬
haft und heimtückisch wie das Märchen von den Erhobenen.
Mindeste abzuzwingen verstanden, was künstlerisch von
Werth wäre. Es gibt z. B. einen verzerrten französischen
Er ist nicht stark genug, dem Urtheil der Welt zu trotzen,
Marschall, der binnen fünf Minuten (während der Völker¬
er geht und verläßt Fanny. Das Schauspiel zeigt be¬
schlacht von Leipzig nebenbei gesagt) folgendes thut oder
merkenswerthe Feinheiten in der Seelenschilderung des
nicht thut: er wagt es nicht, zwei sächsischen Lieutenants
Mädchens, wenn auch hier eine größere Mannichfaltigkeit
und zwei sächsischen Infanteristen zu sagen, daß der Kaiser
gefordert werden könnte. Gleichwol lebt diese Gestalt und
ist bedeutend. Sehr fein ist das Verhältniß der Schwestern
Napoleon befohlen hat, die Sachsen als unsicher von den
zueinander. Fanny hat ihre ältere Schwester immer un¬
Vorposten abzulösen und hinter die Front zu ziehen; der
Marschall wagt es nicht auszurichten, weil ihn les Feux der
endlich hochgestellt und sich ihr gegenüber in ihrer ganzen
vier Soldaten stören. Derselbe Marschall erinnert sich
Schuld gefühlt. Jetzt, als die Schwester eine kühle Ver¬

standsehe mit einem pensionsberechtigten Beamten eingehen
alles geht, wie gesagt, dinnen fünf bis zehn Minuten
bei Leipzig am 17. October 1813 vor — an den Kuhreigen
will, mindert sich das Schuldbewußtsein Fanny's und sie
und singt „Zu Straßburg auf der Schanz“; derselbe
sieht in der Denkweise der Schwester das kleinlich Be¬
Marschall läßt sich von seinem Adjutanten die Karte des
rechnende. In hundert Einzelheiten ist das Leben ge¬
Schlachtfeldes erklären, ungefähr wie sich jemand die Aus¬
troffen und mit schöner, warmer Empfindung im Bild des
jungen Mädchens benutzt. Der Schriftsteller, Fanny's
sicht vom Schafsberg erklären läßt; er weiß nicht wo
Geliebter, hat dagegen etwas von jeuer Absichtlichkeit an
Möckern liegt und nicht, wo Taucha liegt und welche
Truppen dort stehen. Einen solchen Marschall gab es bis¬
sich, die Figuren meist eigen ist, an denen ein Dichter etwas
her sogar in der Operette nicht. Eine wichtige Rollt spielt
erweisen will. Dies Verstandeselement zeigt sich auch in
in dem Stück ein Buch mit folgendem Titel: „Wilhelm
der wenig geschickten Führung mancher Seenen. Da ist
Tell. Ein Schauspiel von Schiller. Zum Neujahrsgeschenk
der kluge Freund, der Raisonneur des Stückes, der immer
auf 1805. Tübingen in der J. G. Cotta'sche Buchhandlung
warnt und mahnt und erklärt; da kommt, als die Ent¬
1804.“ Die Bibliographie ist tadellos. Auf den ersten
scheidung fallen soll, zuerst das Mädchen, dann nach ihrem
Blick werden in dem Buch die bekannten Worte des Atting¬
Abgang ohne zwingende Motive der Mann, der ihr Ver¬
hausen entdeckt (Tell hat ja nur 3286 Verse) „Ans Vater¬
führer war, dann nochmals und wieder ohne Nothwendig¬
land, aus theure schließ dich an“ u. s. w. Den gewonnenen
keit das Mädchen, das schließlich mit Preisgebung ihrer
Eindruck geben die sächsischen Offiziere mit folgenden Worten
selbst einen Pyrrhussieg über den Schwankenden erringt.
wieder, die als Probe des künstlerischen Stiles von Riffert
Auch die Streitereien über literarische Fragen sind kalt
eine Stelle finden mögen: „Mächtig, gewaltig und recht
und unnöthig fürs Stück. In seiner Gesammtheit ist es
wie für uns geschaffen, wie Trompetenklang und Rosses¬
mit Ueberwindung des leicht abstoßenden Stoffes von warmer
stampfen in der Schlacht, die wie mit Tüchern winken:
Empfindung durchflossen, und mit wirklicher Sorgfalt ge¬
kommt! kommt!“ Wer Ohren hat zu hören, der bemerkt
arbeitet, bis auch das Geringe durch unermüdliche Kunst
wol, daß Riffert über den künstlerischen Ausdruck, über
Adel und Würde erreicht.
die Charakteristik und lebensvolle Sprache des Dramatikers
2. Vaterland. Schauspiel von Julius Riffert. Leipzig,
nicht gebietet.
Walther Fiedler. Comm.=Verl. 1894. Gr. 8. 1 M.
3. Ahasver, der ewige Jude. Mysterium in drei Aufzügen und
Ausbündige Langeweile ist wol das beste, das kenn¬
einem Vorspiel von Johannes Lepsius. Leipzig, Aka¬
zeichnende Urtheil über Riffert's „Vaterland“. Zwar bis
demische Buchhandlung (W. Faber). 1895. 8. 2 M. 40 Pf.
zu jener geradezu erdrückenden, wuchtigen Langeweile, die
Das Drama von Johannes Lepsius ist nicht ohne
das Bismarck=Festspiel desselben Verfassers mir noch lange
Spuren von Talent, aber künstlerisch verworren und un¬
unvergeßlich gemacht hat, verliert sich das neueste Schau¬
reif. Es spielt in der Zeit vom Ausbruch des jüdischen
spiel schon deshalb nicht, weil statt Allegorien und
Krieges bis zur Zerstörung Jerusalems. Abgesehen von
Typen wirkliche Ereignisse von Alltagsmenschen vorgeführt
dem bereits umherirrenden ewigen Jnden werden Geister
werden. Die Scene ist Pannsdorf bei Leipzig in der
und Gespenster aller Art aufgeboten, Moses und Elias,
Linie der französischen Schlachtordnung am 17. October
1813, wo sächsische Truppen, in einer weit vorgeschobenen der Tod und die vier apokalyptischen Reiter; dazu zahl¬