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UII
3. Buch der Sprusche und Bedenken
Max Goldschmidt
für Zeitungsausschnitte
Teleion: Norden 3051
Ausschnift aus:
Neueste Nachrichten
(627
17 Kpril
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Was wir für gewöhnlich Lüge zu nennen pflegen,
ist meist nur ihre mildeste und harmloseste Form. Die
Bemerkungen
echte, die wahrhaftige Lüge, wenn man so sagen darf,
hört auf ganz andre, viel vornehmere Namen, und
Von Arthur Schnitzler
sie fühlte sich kaum getroffen, wenn man sie einfach
noch unveröffentlichten „Buch
als Lüge bezeichnete. So wie manche Gauner und
[Sprüche und Bedenken“)
Mordgesellen der Politik kaum den Kopf wendeten,
wenn sich jemand einfallen ließe, sie so anzurufen, wie
erhabensten Gefühle, wenn sie sich's an
sie es verdienten, da sie ja vielmehr Anspruch zu er¬
kügen lassen, zersetzen sich allmählich und
heben pflegen, in die Weltgeschichte ais Staatsmänner
sun in immer weiterem Umkreis Ver¬
oder Helden Einzug zu halten.
Merkt ihr nicht, wie
) zu verbreiten.
ie Welt von Menschenliebe duftet?
Wenn ihr den Gott lobpreist, ohne dessen Willen
kein Sperling vom Dache fällt, warum prügelt ihr
e verräterischer Feigheit ist doch manch¬
den Knaben, der ihn herunterschießt?
ache! Sie hat das Wort Verzweiflung
aus dem Zweifel kommt —; eine Steige¬
sdrucks, die fast wie ein Urteil, eine Ver¬
Der Geschmack einer Speise, eines Dinges, eines
ine Strafe wirkt, aber sie hat sich gehütet,
Menschen kann täuschen, denn er trägt zu viele Mög¬
Port Glaube das Wort Verglaubung zu
lichkeiten des Irrtums in sich. Er kann verfälscht
in allzu fataler Weise an das Wort Ver¬
werden durch unsern Appetit, unsre Neugier, unsre
Sehnsucht durch das Moment der Ueberraschung so
innert.
gut wie durch das der Gewöhnung. Im Nachgeschmack
erst ist der wirkliche Geschmack zwar verdünnt, aber
u dich in Gefahr glaubst, an einem Men¬
auch gereinigt enthalten; am Nachgeschmack erst er¬
nde zu gehen, so rechne es ihm nicht gleich
sich die Idee des Menschen, des Dinges, der
an, sondern frage dich vorerst, wie lange
Speise, die wir genossen haben.
ich solch einem Menschen gesucht hast.
Wenige Menschen versäumen es, für das Schuld¬
mt nicht selten vor, daß Theaterstücke vor
gefühl, das ihnen nach einer Büberei zurückblieb, an
kum mangelhaft gespielt werden, nicht weil
ihrem Opfer durch eine neue sich zu rächen; für die
pudern weil zuviel Proben stattgefunden
zweite durch eine dritte und so fort. Denke nur, wie¬
gibt es auch eine Art von überspielten
viel Groll in einem Menschen sich ansammeln müßte,
unern, die darum, weil sie gar zuviel Er¬
der dich haßt und noch nicht einmal zu der ersten
sammelten, endlich immer die Genarrten
Büberei Gelegenheit fand.
Die Anteilnahme der Nebenmenschen an unserm
hatte es leichter auf der Welt als Napo¬
Schicksal ist Schadenfreude. Zudringlichkeit und Besser¬
hin Cäsar war Cäsar und Napoleon spielte
wisserei in wechselndem Gemisch.
freilich hätte ihn niemand spielen
teon
gerade er.
Dilettant sein, das heißt: seiner eigenen Einfälle
nicht wert, aber auf sie stolz sein.
bt Leute, die alle möglichen Tugenden in
igen, nur mit der Einschränkung, daß sie
Das muß schon eine sehr hohe Art von Mensch
Tugenden auf fremde Kosten üben. Sie
sein, dem die Sehnsucht nach Freiheit etwas andres
hwenderisch aus den Taschen andrer, und
bedeutete, als die Begier nach Verantwortungs¬
dem Geiste andrer, und mutig auf andrer
losigkeit.
box 35/3
Es gibt allerlei Flucht aus Verantwortung: Es
gibt eine Flucht in den Tod, eine Flucht in die Krank¬
heit und endlich eine Flucht in die Dummheit. Die
letzte ist die gefahrloseste und bequemste, denn auch
für kluge Leute pflegt der Weg nicht so weir zu sein,
als sie sich gerne einbilden möchten.
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