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Buch der Sprueche und Bedenken
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N4
Telefon: Norden 305)
Ausschnift aus:
Dresdner Neueste Nachrichten
17 April 1927
1
Was wir für gewöhnlich Lüge zu nennen pflegen,
ist meist nur ihre mildeste und harmloseste Form. Die
Bemerkungen
echte, die wahrhaftige Lüge, wenn man so sagen darf,
Von Arthur Schnitzler
hört auf ganz andre, viel vornehmere Namen, und
sie fühlte sich kaum getroffen, wenn man sie einfach
(Aus dem noch unveröffentlichten „Buch
als Lüge bezeichnete. So wie manche Gauner und
der Sprüche und Bedenken")
Mordgesellen der Politik kaum den Kopf wendeten,
Auch die erhabensten Gefühle, wenn sie sich's an
wenn sich jemand einfallen ließe, sie so anzurufen, wie
sich selbst genügen lassen, zersetzen sich allmählich und
sie es verdienten, da sie ja vielmehr Anspruch zu er¬
heben pflegen, in die Weltgeschichte als Staatsmänner
beginnen dann in immer weiterem Umkreis Ver¬
wesungsgeruch zu verbreiten. Merkt ihr nicht, wie
oder Helden Einzug zu halten.
übel heute die Welt von Menschenliebe duftet?
Wenn ihr den Gott lobpreist, ohne dessen Willen
Von wie verräterischer Feigheit ist doch manch¬
kein Sperling vom Dache fällt, warum prügelt ihr

mal die Sprache! Sie hat das Wort Verzweiflung
den Knaben, der ihn herunterschießt?
gebildet, das aus dem Zweifel kommt —; eine Steige¬
rung des Ausdrucks, die fast wie ein Urteil, eine Ver¬
Der Geschmack einer Speise, eines Dinges, eines
dammung, eine Strafe wirkt, aber sie hat sich gehütet,
Menschen kann täuschen, denn er trägt zu viele Mög¬
aus dem Wort Glaube das Wort Verglaubung zu
lichkeiten des Irrtums in sich. Er kann verfälscht
bilden, das in allzu sataler Weise an das Wort Ver¬
werden durch unsern Appetit, unsre Neugier, unsre
sklavung erinnert.
Sehnsucht durch das Moment der Ueberraschung so
gut wie durch das der Gewöhnung. Im Nachgeschmack
Wenn du dich in Gefahr glaubst, an einem Men¬
erst ist der wirkliche Geschmack zwar verdünnt, aber
schen zugrunde zu gehen, so rechne es ihm nicht gleich
auch gereinigt enthalten; am Nachgeschmack erst er¬
ls Schuld an, sondern frage dich vorerst, wie lange
weist sich die Idee des Menschen, des Dinges, der
du schon nach solch einem Menschen gesucht hast.
Speise, die wir genossen haben.
Es kommt nicht selten vor, daß Theaterstücke vor
Wenige Menschen versäumen es, für das Schuld¬
gefühl, das ihnen nach einer Büberei zurückblieb, an
dem Publikum mangelhaft gespielt werden, nicht weil
zuwenig, sondern weil zuviel Proben stattgefunden
ihrem Opfer durch eine neue sich zu rächen; für die
zweite durch eine dritte und so fort. Denke nur, wie¬
haben. So gibt es auch eine Art von überspielten
viel Eroll in einem Menschen sich ansammeln müßte,
Menschenkennern, die darum, weil sie gar zuviel Er¬
der dich haßt und noch nicht einmal zu der ersten
fahrungen sammelten, endlich immer die Genarrten
Büberei Gelegenheit fand.
bleiben.
Die Anteilnahme der Nebenmenschen an unserm
Cäsar hatte es leichter auf der Welt als Napo¬
Schicksal ist Schadenfreude. Zudringlichkeit und Besser¬
leon. Denn Cäsar war Cäsar und Napoleon spielte
wisserei in wechselndem Gemisch.
den Napoleon — freilich hätte ihn niemand spielen
können als gerade er.
Dilettant sein, das heißt: seiner eigenen Einfälle
nicht wert, aber auf sie stolz sein.
Es gibt Leute, die alle möglichen Tugenden in
sich vereinigen, nur mit der Einschränkung, daß sie
Das muß schon eine sehr hohe Art von Mensch
alle diese Tugenden auf fremde Kosten üben. Sie
sein, dem die Sehnsucht nach Freiheit etwas andres
sind verschwenderisch aus den Taschen andrer, und
bedeutete, als die Begier nach Verantwortungs¬
klug mit dem Geiste andrer, und mutig auf andrer
losigkeit.
Gefahr,
Es gibt allerlei Flucht aus Verantn
gibt eine Flucht in den Tod, eine Flucht
heit und endlich eine Flucht in die Dul
letzte ist die gefahrloseste und bequemst
für kluge Leute pflegt der Weg nicht so
als sie sich gerne einbilden möchten.