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rt und der Geist in der Ta
Der Geist in W#
lichkeiten; die Psychologie wird fest in großen
einem so hohen Grade von sich selbst weg getreten,
Charaktertypen. Zwar behauptet Schnitzler nicht,
hat sich so sehr vergessen, daß er die Wege seiner
daß jeder Mensch einer der aufgestellten Typen
Geschöpfe nur noch sieht und nicht mehr zu leiten
eingeordnet werden könne, er betont vielmehr
scheint, daß er eines jeden Moral nur noch spüren
entschieden die Vieldeutigkeit des wirklichen Men¬
läßt, nicht mehr wertet. Aber vielleicht hat der
schen; aber daß er im seelischen Kontinuum eine
Dichter, der seine Seele selbstlos hingegeben hatte
geringe Anzahl einfacher und großer Typen er¬
an eine lebendige Menschenwelt, in mancher
schaut und als gültig heraushebt, das beweist
Stunde der Angst noch etwas anderes begehrt
seinen Willen zum Beharrenden, zum Statischen
als sich chaotisch aufzulösen: Wohlgefügte Ordnung
innerhalb der Menschenwelt über das verlockende
der Welt und der eigenen Seele, strenge Festigung
Strömen hinaus.
und Normierung alles Menschenseins und =tuns,
Die Zeichnung, auf der rechts und links, oben und
Klärung alles dessen, was verwischt und ver¬
unten je zwei Typen von Menschen — nicht Be¬
taumelt gewesen.
gabungen und auch nicht Charakteranlagen und
Ich meine nun, daß Schnitzler aus der Rand¬
Persönlichkeiten, sagt Schnitzler ausdrücklich, son¬
losigkeit seiner vielen Menschen heraus begehrt
dern „Geistesverfassungen“— spiegelbildlich gegen¬
hat in einen klar umrissenen Bereich. Wäre er ein
einander gestellt sind, hat etwas Verführerisches.
lächelnder Zyniker, so hätte er sich mit der Vielfalt
Etwa: Staatsmann und Politiker, Historiker und
seiner Gestalten begnügt, wäre stolz darauf ge¬
Journalist entsprechen einander wie die Position
wesen. Aber hiervon ist er das Gegenteil. Er muß
der Negation. Schnitzler sagt ausdrücklich, daß es
feste Umgrenzung gewinnen, eine Menschenwelt,
Übergänge zwischen den Typen nicht gebe, daß
die Klarheit und Sicherheit bietet beinahe wie die
jeder Mensch an einem Punkt unveränderlich ge¬
in mathematischen Formeln erfaßte Natur. Ge¬
wurzelt sei — ein objektives System aller mensch¬
riete er so in Dogmatik — es wäre ein geringes
lichen Charaktere ist, wenn nicht gewonnen, so
Übel neben diesem heroischen Willen zum rein
doch provisorisch entworfen. „Wer als Repräsen¬
Gezeichneten, zum klassischen Festumrissenen, zur
tant des Typus Pfaffe geboren worden ist, kann
unwandelbaren Plastik der Menschenseele gegen¬
niemals zum Priester werden, auch wenn er den
über der bis jetzt durchaus befolgten künstlerischen
Beruf des Priesters erwählt.“ Aber — „der
Methode der Randlosigkeit. In zwei Rhomben
Priester wird sich oft genug wie ein Pfaffe äußern
wird ein original konzipiertes System der Men¬
und gebärden müssen“. Diese „Geistesverfassungen“.
schen hingezeichnet, auf wenigen Seiten erläutert:
sind wie eine unterste Schichte im Menschen ge¬
Ein Viereck, den Menschen des Geistes gewidmet,
meint, der viel anderes — Talente, sittliches Ver¬
eines den Mensa en der Tat, jedes Viereck durch¬
halten, Neigungen, kurz alles, was zusammen
geschnitten — oben die Guten, unten die Bösen.
„Persönlichkeit“ konstituiert — übergebaut ist.
Der Gipfel ist Gott, zu dem Dichter und Prophet
Jene Fundamentaltypen sind aber nach der An¬
hinaufweisen — unten ihr Gegenbild: der Literat,
nahme Schnitzlers unveränderlich, gewissermaßen
der Tückebold (Bösewicht), die zum Teufel führen.
die zwölf Grundtöne der Menschheit, aus denen
Dieses Schema ist in der Sphäre der Tat parallel
die Welt hervorgeht. Diese Grundtöne zu ent¬
abgebildet: der Held, der zum Propheten und zu
decken, das ist eben die Aufgabe, die sich Schnitzler
Gott hinaufdeutet — und der Schwindler (Hoch¬
gestellt hat, und es versteht sich hierbei von selbst,
stapler), der Bösewicht, die wiederum den Weg des
daß gewisse Grundtöne mit gleichbleibenden Ober¬
Teufels gehen.
tönen wiederkehren: es gibt Verwandtschaft
Diese Verfestigung der strömenden menschlichen
zwischen Geistesverfassungen un Charakter¬
Vielfalt in großen Typen, diese Selbstbeschrän¬
anlagen oder Lieblingsneigungen. Da die Menschen¬
kung des Menschengestalters zum wissenschaft¬
welt prinzipiell als ein Kontinuum aufgefaßt
lichen Charakterologen muß ergreifen, aber noch
werden muß, ist, theoretisch gesprochen, der Nach¬
mehr der eindeutig ethische Wille. Hier gibt es
nicht mehr das psychologisch gebotene mittel= weis, daß gerade diese Typen zugrunde liegen,
punktlose Auf= und Niederpendeln aller Mensch= unmöglich; es hank it sich um Akzentuierungen
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