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ein modernisierter, der nervosen, schnellebigen Gegenwart
mundgerecht gemachter Goethe, noch dazu einer, der bis vor.
kurzem den Privatdozenten vorbehalten, der, wenn man lieber
will, geistiges Reservat einer Edelmenschengemeinde gewesen
ist: Goethe in seinen Briefen. Die Goethe=Briefe gehören
also zu den gelesensten Büchern, und zwar in einer eigen¬
arligen Edition, die Ernst Hariung im Langewiesche¬
Brandischen Verlag veranstaltet hat. Zwei Bände sind es, der
eine umfaßt die wertvollsten Briefe aus der ersten Hälfte; des
Dichterlebens und ist nach Goethes Petschaft „Alles um Liebe“
„betitelt, der andere nennt sich „Vom tätigen Leben“ und um.
faßt die Periode von 1790 an. Die rein literarischen Be¬
ziehungen und Werte treten hinter den menschlichen
ein
zurück, es
Lebensroman
in Briefen,
deren verbindender Text mit wohltuend keuscher Zuruck¬
haltung geschrieben ist. Die schöne Arbeit, Goethe zu
winnen, sagt der Herausgeber, muß ja schließlich jeder fü
sich selbst leisten, indem er aus allen Aeußerungen diese
einzigen Lebens das gerade seiner Natur Gemäße zu nehmer
anhaltend bemüht bleibt. Das hat gewiß seine schwerwiegend
Richtigkeit; aber es schmälert keineswegs das Verdienst dei
Helfers und Eidgenossen, das mit bereitwilliger Dankbarkei
anerkannt werden soll..
Ein retrospektiver, beschauliche
Zug gehr durch das deutsche Lesepublikum, ein Besinnen au
das Erworbene und Zurückgelegte. Mustert man die Weih
nachtskataloge der Verleger, so überrascht einen die groß
Anzahl der Neudrucke und Neuauflagen älterer Autoren
Eigentlich schneidet die Belletristik schlecht ab im Vergleich
mit der Memoiren= und Briefliteratur. Von den Neuerschei
nungen auf dem Gebiete des Romans und der Novelle haben
nur wenige eingeschlagen, und sucht man in den Werken, die
von berufenen Fachmännern genannt werden, nach einem
gemeinsamen Zug, so glaubt man deutlich eine Abkehr von
dem das Alltagsleben abschreibenden Realismus einerseits,
vom einseitig Geistreichen, wohl auch Geistreichelnden an¬
dererseits zu verspüren. Das Lesepublikum will wieder Hand¬
lung, Geschehnisse, dramasische Steigerung der Vorgänge.
Nicht nur auf der Bühne, auch im Roman. Unser treuer
Gewährsmann Herr Ludwig Last, der in seiner großen Leih¬
bibliothek alltäglich, jede Stunde, den Puls des Lesepublikums
spürt, nennt uns zwei belletristische Werke als die gelesensten,
meistbegehrten, meist ausgeliehenen Bücher der Saison. Wir
verzeichnen diese mit einer gewiß entschuldbaren Befriedigung,
hat doch unser Blatt beide Werke zuerst seinen Lesern ge¬
boten: Paul Lindaus „Die blaue Laterne" und
Scapinellis „Phäaken“. Lindau kommt in hohem
Grade dem eben angedeuteten Bedürfnis des Lesepublikums
nach Handlung, nach spannenden Vorgängen entgegen. Sieg¬
reich hat er die Leserscharen von dem etwas sumpfigen Seiten¬
pfad der aufregenden Sherlock Holmes=Literatur wieder empor¬
geführt in gepflegtere und kultiviertere Gesilde. Scapinelli
wiederum war der erste, der mit starker Hand den Wiener
Roman der Gegenwart zu schreiben versuchte, kein lokalpatrio¬
tisches Duliähgestanzel und kein Pamphlet, sondern das heutige
Wien und seine psychologische Eigenart zu ergründen trachtete.
Die junge Wiener Literatur ist ein wenig einsilbig, um nicht
zu sagen, mundfaul. Nur zwei Autoren werden uns ge¬
nannt, deren jüngste Schöpfungen im Vordertreffen stehen:
ArthurS##m seinem nachdenklichen Novellen¬
buch „Dämmerseelen“ und unser Freund Raoul Auern¬
heimer, dessen „Aengstliche Dodo“ auch das reichsdeutsche
Publikum neuerlich auf wienerischen Charme und Liebreiz
aufmerksam gemacht hat. Blättern wir noch ein wenig weiter
in den inhaltsreichen Aufzeichnungen des Herrn Last. Die
Teilnehmer an dem Katholikentage mögen das Folgende gütigst
entschuldigen. Es weht allen gegenteiligen Behauptungen
zzum Trotz ein scharfer Wind des Zweifels durch die Welt,
sund jene Werke, die das Ringen des Andersdenkenden gegen
Dogmenzwang und Glaubensfesseln aufzeigen, sind starken
Leserzuspruches sicher. Just aus dem frommen Land Tirol
kommt so ein Kulturkämpfer, Rudolf Greinz, dessen Bauern¬
roman „Das stille Nest“ viel begehrt wird. Eine weitere
bunte Reihe: Gabriele Reuter „Die Amerikanerin“
Herzog „Der Abenteurer“, Pontoppidan „Hans im
Glück“ und ein neuer Däne Johannes B. Jensen, der
gleich mit einem Roman „Madame d'Ora“ und zwei Novellen¬
sammlungen „Die Welt ist tief" und „Hinterlandsgeschichten“
auf einmal auf dem Plan erscheint. Allzureichlich ist, wie
man sieht, die Ausbeute keineswegs. Wir verzeichnen heuer
keinen neuen Mann, der gleich Lord Byron von sich sagen
könnte, er sei eines schönen Morgens erwacht und berühmt
gewesen, auch kein neues Buch, das, wie etwa vor einigen
Jahren „Jena oder Sedan“ oder in einer anderen Saison die
„Briese, die ihn nicht erreichten“, alle Mi bewerber um die
Gunst des Publikums weit hinter sich ließe. So weit es
auf die Leser ankommt, hält, das sei nochmals wiederholt,
die literarische Hochkonjunktur an; aber die Nachfrage über¬
— Lesenswertem: Die Theater¬
steigt das Angebot an
direktoren, die über die Sterilität der modernen Bähnen¬
autoren klagen, stehen in ihrer Verzweislung wahrlichs nicht¬
St—g.
allein.
10 „ I. v.
Telephon 12801.
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O l. österr. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
2
Vertretungen
9 in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Genf, Kopen¬
hagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis, New-Vork,
Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
Muelienangabe ohre Geuahr.
Ausschnitt aus:
E vom:
##
„(Die Bücher der Saison.] Die „Neue freie
Presse“ hat in Wiener Bibliotheken nach den meist
gelesenen Büchern der Saison gefragt. Dabei
hat sich herausgestellt, daß Goethe zurzeit am häu¬
figsten begehrt wird, und das ist kein schlechtes Zeug¬
nis für den Geschmack eines großstädtischen Lese¬
publikums. Und zwar ist es Goethe in seinen
[Briefen, in der eigenartigen Ausgabe, die Ernst
[Hartung im Langewiesche=Brandtschen Verlag
veranstaltet hat. Gleich hinter Goethe steht in der
Gunst der Wiener Leser Paul Lindau mit
seinem Roman „Die blaue Laterne“; ihm schließt
sich enge der Münchener Schriftsteller
[Carl Conte Scapinelli an, der den Wienern
mit seinen „Phäaken“ ihren Sensationsroman
geschrieben hat. Arthur Schnitzler und
aber
[Raoul=Auernheimer sit
dazwischen liegt eine tiefe Kluft.
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Telephon 12801.
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O l. österr. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschuitte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
2
Vertretungen
9 in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Genf, Kopen¬
hagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis, New-Vork,
Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus:
Linzer Tagespost
*
350
130121907
E vom:
Von den beiden Novellenbüchern ist das eine von
Artur Schnitzler, das andere von Hugo Salus. Der
lerschen Buches „Dämmerseelen“
Titel
(bei S. Fischer, Berlin) ließ vermuten, der Dichter be¬
schenke uns wieder mit einem Bande jener psychologisch
tiefen und hellseherischen Novellen, die uns ihn so überaus
wert machen. Er spielt aber, leise spottend, mit Ideen aus
der Gedankenwelt des amerikanischen Dichters Edgar Poe,
dem Phantasten, der die menschlichen Schicksale von einer
dämonischen Macht geleitet wissen will. Von den fünf No¬
vellen packt besonders die erste, während die letzte trotz ihrer
rührenden Tragik am meisten den Schalk erkennen läßi,
der aus dem aanzen Buche lacht.