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7. Gesamnelte Nerke
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Seite 636 —
Die Hilfe
Nr. 40
der Dichtung sich erschöpft hatte, kehrte man von dem
Gertrud Bäumer (Das Werk Arthur Schnitzlersgußen, den Zuständen und Tatsachen des äußeren Lebens,
wieder nach dem Drinnen, zur Seele zurück. Diese Wendung
Eben erscheint im Verlag=Von S. Fischer in sieben
von den états de choses, den sachlichen Zuständen, zu den
Bänden eine Gesamtausgabe von Schnitzlers Erzählungen
états dämes, den Seelenverfassungen, liegt in Frankreich
und Theaterstücken. Vielleicht bedeutet sie auch nach dem
zwischen Zola auf der einen, Bourget und Maupassant auf
Willen des Dichters die Inventur eines Schaffensabschnittes,
der anderen Seite. Aber man sah die Seele, mit der man
denn Schnitzler gehört ja zu den Fünfzigern des Jahres
wieder anfing sich zu beschäftigen, gewissermaßen mit natura¬
1912. Jedenfalls liegt in einer solchen Gesamtausgabe die
listischen Augen; man sah nicht ein erhabenes und be¬
Aufforderung, den Dichter als die eine bestimmte Gestalt im
schwingtes Wesen für sich, das jenseitigen Welten angehört
Gesamtbild der Zeit zu erkennen, die er durch sein Werk
und im Körper wie in einer fremden Hülle wohnt, sondern
geworden ist. Schnitzlers Zeit beginnt mit dem Jahr 1890.
man sah Nerven und Sinne. Und die Menschen schienen
„Die Wiener“ — so hatte man sich einst gewöhnt,
nicht mehr so wie Schillersche Helden mit sicheren, unauf¬
Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr und
haltsamen, starken Schritten ihren Siegen oder Katastrophen
ein paar jüngere Dichter zusammen zu denken. Dieses Mit¬
entgegenzugehen, sondern hundertfach abgelenkt, sich selbst
einander hat jetzt nicht mehr viel Sinn. Zu ausgeprägt
entfremdet, nur in seltenen und zufälligen Augenblicken
und unterschieden heben sich in ihrer Reife die Persönlich¬
„frei“, das heißt ganz Ich und Persönlichkeit zu sein. Und
keiten voneinander ab.
daraus eben schienen alle Fragen und Verwirrungen der
Aber die Empfindung, die sie einst zusammenfaßte,
Schicksale zu kommen: nicht daß ein übermächtiger Wille
wurzelte doch noch in etwas anderem als dem Eindruck von
mit ebenso klaren und dentlichen Gegenmächten in der Welt
einer gleichen Lokalferbe. Diese Dichter hatten etwas Ver¬
zusammenprallt, sondern weil unser Ich uns Geheimnis ist,
wandtes in ihrer inneren Stellung zum Leben, in ihrem
das Dunkelste, Mißverstandenste in uns, das sich uns erst
Welt= und Zeitgefühl, das mit „Wien“ wenigstens nur sehr
enthüllt, indem sich unser Schicksal erfüllt, nicht vorher. Wir
mittelbar zu tun hat, vielmehr neben der heimatlichen noch
finden uns gebunden, wo wir uns frei fühlten, wir lieben
eine zweite Gemeinsamkeit zwischen ihnen darstellte. Wenn
oder hassen, wo wir glaubten gleichgültig zu sein. Aber die
man dieses Lebensgefühl mit dem Schlagwort „Impressio¬
Entdeckung kommt immer zu spät, weil sie erst kommen
nismus“ bezeichnet, so bedarf das vieldeutige Wort dann
kann, nachdem die Würfel gefallen sind.
freilich noch einer Auslegung.
Die Seele ist ein „weites Land“ — voll unberechen¬
Denn dieser Impressionismus ist zwiefacher Herkunft.
barer Möglichkeiten, und niemand kann von einem Augen¬
Er kommt als ein Weltgefühl, eine Lebensstimmung, an
blick zum anderen für sich gutsagen. Wir haben heute „den
der wir alle teilhaben, aus dem Wesen unserer Kultur.
Blick von gestern nicht mehr“, und wir wissen nicht, wieviel
Noch niemals hat ein Geschlecht auf Erden geistig so viel
von dem, was wir heute unser Ich neunen, uns morgen
zu bewältigen gehabt wie wir Heutigen. Das Tempo des
gehören wird.
geistigen Austausches — gewissermaßen des Umsatzes aller
Auf einem Wasser, welches fließt, der Schatten
inneren Werte ist schneller und schneller geworden. An jedem
Von Wolken ist ein minder nichtig Ding,
von uns treibt der Kulturstrom in rastlosem Sturz Eindrücke
Als was wir Leben nennen. Ehr' und Reichtum
und Eindrücke, Bilder und Bilder vorüber, die im Gleiten
Sind lustige Träume in der Morgenfrüh,
und Fliehen uns flüchtig ergreifen, und deren wir habhaft
„Besitz“ von allen Wörtern ohne Sinn
Das albernste, von einem Schullehrer
werden möchten. Indem wir das Enteilende für uns ordnen
Ersonnen, welcher meinte, jedem Wort
und verknüpfen, kommt ein Neues und zerreißt das eben
Müßt' eins entgegenstehn, wie Weiß dem Schwarz,
sich schürzende Band einer inneren Einheit. Und so kommt
Und so gebildet, weil Besessenwerden
über den Menschen ein Gefühl des Ausgeliefertseins an den
Ein wirklich Ding.
Augenblick; er verliert den Glauben daran, daß sich diese
(Hugo von Hofmannsthal: Der weiße Fächer.)
geistige Welt außerhalb seiner übersehen und ordnen lasse,
Wenn Hugo von Hofmannsthal diesem Bewußtsein des
daß man ihrer Herr werden könne. Er fühlt sich mitgerissen,
Verstricktseins in „die große Magie des Daseins“, des
getrieben, überantwortet. Und indem seine Einfühlungs¬
spurlosen Verrinnens der Wirklichkeit von heute in den
und Aufnahmefähigkeit immer feiner, wachsamer und beweg¬
Strom des Geschehens am liebsten lyrischen Ausdruck ge¬
licher wird, schwindet ihm das Bewußtsein der eigenen Per¬
sönlichkeit, die wählend und richtend sich selbst bewahrt, in¬
geben hat, so steigen in Schnitzlers Werk aus dem Grunde
des gleichen Gefühls Gestalten und Schicksale. Letzten
dem die Bilder des Tages durch sie hindurchziehen. Diesen
Endes sind alle seine Erzählungen und Theaterstücke hier
inneren Zustand spiegelt die Philosophie des Wieners Mach
von der „Unhaltbarkeit des Ich“ — die Theorie, daß wir
eingewurzelt. Und wenn man bei ihm, abgesehen von der
wachsenden Vergeistigung und Durchbildung der Form, von
nichts anderes als Durchgangsstation für das Gewühl des
einer Entwicklung sprechen kann, so besteht sie darin, daß
Lebens seien. „Impressionismus“ als Lebensgefühl ist das
Schnitzler in diese Verwirrungen und Schicksalsfügungen,
Auslöschen des wollenden, schaffenden, von seiner eigenen
die aus der Flüchtigkeit des Gefühls und der Wandelbarkeit
Mitte aus die Welt mitbewegenden Ich in dem bloß auf¬
der Seele kommen, immer tiefer eindringt, und daß sie ihm
nehmenden, Eindrücke empfangenden und mit ihnen von
immer mehr den eigentlichen Inhalt aller Komödien¬
Augenblick zu Augenblick verwandelten. Schnitzler hat einmal
haftigkeit oder Tragik des Lebens auszumachen scheinen.
die Menschen seines Geschlechtes selbst gekennzeichnet: „Viel
Geist und wenig Haltung“ (in dem Theaterstück: „Der ein¬
Schon die anmutig=leichtfertige Witzelei über die Ver¬
same Weg").
gänglichkeit in den Junggesellenabenteuern des Anatol kam
aus diesem Bewußtsein von den unberechenbaren Verwand¬
Diesem allgemeinen ist ein literarischer Impressionismus
zur Seite gegangen. Als die naturalistische Bewegung in
lungen der Seele; die Schwermut, die in dem frivolen