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Panphlets Iprints
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Friedrich Düsel: Dramatische Rundschau.
Noch immer stehen Lessings „Minna“ und neben lichsten, sprudelndsten Leben erwacht. Die Sorma
der stolzen Preußin=Sächsin allenfalls ihre be= gab die Minna leichter, qnicker, ausgelassener
scheidenen Geschwister aus der Mark und aus und resoluter, als man sie für gewöhnlich sieht.
Schlesien: Kleists „Zerbrochener Krug“ und Frey¬
Sie betonte mehr das „fröhliche Geschöpf“ das
tags „Journalisten“ als einsame Größen da,
entschlossene deutsche Mädchen, das dem König
denen der spätere Nachwuchs kaum die Schuh¬
einen Offizier wegkapert, um ihn sich zum Manne
riemen lösen darf. Diese Dürftigkeit der moder¬
zu gewinnen, mehr die schelmische Schalkhaftigkeit
nen deutschen Lustspielproduktion wurde uns so
als die anmutige Klugheit und die kaltblütige
recht zu Gemüte geführt, als vor kurzem das
Vernunft des sächsischen Edelfräuleins. Nur sel¬
„Neue Theater“ in Berlin einmal wieder diese
ten einmal störte dabei ein zu lauter Ausruf,
„erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene
ein zu schriller Affekt das jugendliche Ebenmaß
Theaterproduktion von spezisisch temporärem Ge¬
ihrer Schöpfung.
halt“ in neuer Einstudierung und Inszenierung
Wie verblaßt neben dieser „wahrsten Ausge¬
auf die Bühne brachte. Freilich, es standen von
burt des Siebenjährigen Krieges von vollkommenem
vornherein die günstigsten Sterne über diesem
norddeutschem Nationalgehalt“ alles, was wir sonst
Unternehmen. Eine deutsche Bühne befaßte sich
in den letzten Monaten an deutschen oder fremd¬
damit, deren Direttor, Max Reinhardt, sich bei
ländischen Gaben der heiteren Muse Thalia empfin¬
allem fröhlichen Wagemut der Jugend für das
gen! Gustav Kadelburgs Situationsschwank
Neue, Frische, Gegenwärtige doch auch die werk¬
„Familie Schierke“, zuerst im Berliner „Les¬
tätige Ehrfurcht vor unserer deutschen Vergangen¬
singtheater“ aufgeführt, lebt eigentlich allein von
heitsliteratur bewahrt hat, und der weiß, wieviel
Gnaden Georg Engels', der die schon einmal
Fleiß, Ernst und Vornehmheit man einem Les¬
von Kadelburg verwandte Gestalt eines ewig
sing schuldig ist; eine deutsche Schauspielerin, die
quengelnden und krakehlenden Berliner Gegen¬
nach virtnosenhaft vertanen Irrjahren um so
vormundes, eines schäbigen Ehrenmannes, mit
selbstsicherer und freudiger die deutsche Seele ihrer
der ganzen Fülle seines drastisch=kaustischen Hu¬
Kunst wiedergefunden hat, bot sich für die Titel¬
mots ausstattet, und gar „Der keusche Kasi¬
rolle dar; der gründlichste und zuverlässigste Ken¬
mir“, das letzte Zugstück des „Residenztheaters“,
ner friverizianischen Kostüms, den wir haben,
das neueste Erzeugnis einer bekannten Pariser
kein geringerer als Adolf Menzel, ward als künst¬
Schwankfirma — man hat sich im Hinblick auf
lerischer Ehrenbeirat für Regie und Ausstattung
das Hauptrequisit des Stückes, einen drehbaren
gewonnen. So gab es zu Anfang des Jahres
Schrank, den billigen Wortwitz nicht entgehen
1904, hundertsechsunddreißig Jahre nach der lassen, das w mit einem r zu vertauschen! —,
Berliner Erstaufführung, an deren Schluß sich
sollte eher nach dem Maschinenmeister benannt
das Publikum erhob und, was noch nie ge¬
werden, der im Handumdrehen Wandschränke in
schehen war, einstimmig die Wiederholung für Liebesbrücken und Spieltische in Hospitalbetten
den nächsten Abend verlangte, in der deutschen verwandelt, als nach den Herren Desvallière
Reichshauptstadt eine Darstellung der „Minna und Mars. Deutsche Komiker, wie Richard
von Barnhelm“, wie sie frischer, lebendiger, Alexander und Hans Pagay, erscheinen fast
wärmer und unmittelbarer in Darbietung und zu schade für dieses französische Tugendkabinet.
Wirkung auch die Zeitgenossen des Dichters nicht Dem „Keuschen Kasimir“ lächelt aus dem Ver¬
gesehen haben können. Man hatte von Anfang liner „Trianontheater“ eine Pariser Inconnne
bis zu Ende den Eindruck, als handele es sich
zu, die der deutsche Bearbeiter in „Madame k.“
um ein eben fertig gewordenes, frisch vom Mann¬
umgetauft hat. Das ist eine Dame, die von
skript gespieltes Stück. Soviel echtes Feuer und
einem unvermuteten Kuß des Negerlönigs Kolo
hellängige Jugendlichkeit war in dieser Neuauf¬
so erschüttert worden, daß sie das Gedächtnis für
führung! Die Schlacken einer üblen Kulissen= Eigennamen verloren hat und nun wohl oder
tradition waren weggeschmolzen; die Schauspieler übel von ihrem ritterlichen Wohltäter so lange
waren durchweg an ihre Aufgaben herangetreten, beherbergt werden muß, bis sie zufällig ihrem
als hätten sie ihre Gestalten dem Dichter zum Pariser „Freund“ begegnet. Inzwischen aber
erstenmal nachzuschaffen, als gelte es ein Metall hat sie reichlich und überreichlich Muße gehabt,
zu prägen, das noch von keinem sonst seinen in dem Strohwitwerheim ihres „Herbergsvaters“
Stempel empfangen hatte. Das machte den Abend jenen Hexensabbat von Irrungen und Wirrungen
so blank und so hell; man sah keinen Kulissen= anzurichten, den die französischen Schwankfabri¬
staub und keinen Requisitenmoder. Etwas von kanten brauchen, um auf den Blocksberg des
der stählernen Frische jener heiteren Frühlings= Blödsinns zu reiten. Ihre Namen? Die tun
morgenstunden kam über einen, die dem Sekretär wirklich zur Sache so wenig wie die der Herren
des Generals Tauentzien auf seine Blätter taute,
und Damen, die allabendlich auf unseren Speziali¬
als er 1764 auf dem Bürgerwerder zu Breslau tätenbühnen ihre Sprünge und Possen üben.
die erste rasche Skizze zu seiner „Minna“ nieder= Mit dramatischer Kunst hat dergleichen nichts
schrieb. Unter den Augen der „Kleinen Exzellenz“ mehr zu schaffen. Der „Drang zu Drama und
war Lessings „Minna“ in der Darstellung un= Theater“ hat sich hier in einen Drang zum Va¬
serer Agnes Sorma noch einmal zum ursprüng= riété und zum Artistentum verwandelt.
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