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1. Pamphlets, Offprints box 36/1
DIE DEMOLIRTE LITERATUR,
Von
KARL KRAUS (Wien).
II.
Man mag kühn behaupten, der Wirkungskreis, den der
Herr aus Linz in Wien erlangte, habe sich auf drei, bei gut
besuchtem Kaffeehause vier Tische erstreckt. Vom linken
Spiegeltisch an beginnt seine Popularität nachzulassen. Hier
postirten sich jene Literaten, die, nicht gewillt, seine abso¬
lutistische Geschmacksdictatur bedingungslos anzuerkennen,
sich bald von ihm losgesagt und als selbstständige Poseure
etablirt hatten. Indes, der Einfluss des Mannes, der, wo er
sich nicht direct für eine Unbegabung eingesetzt, doch auch
noch kommenden Mittelmässigkeiten den Boden gelockert
hat, sollte nicht ohneweiters vergessen werden. Die solchen
Impuls empfangen hatten, gingen allerdings, während er an
der Ueberschätzung neuer Talente arbeitete, den Weg eigener
Entwicklung. Es ist ihnen nicht leicht gemacht worden. Eigener
Kraft verdanken sie den heutigen Besitz ihrer Nerven¬
schwäche; Selfmadermen der Unnatürlichkeit, mussten sie
sich ihre Blasirtheit erst erwerben. — Es ist nun rührend, wie
aristokratische Dichter, deren Adel bereits zahlreiche Degene¬
rationen umfasst, sich über Standesunterschiede hinwegsetzen
und ohne Stolz mit den Emporkömmlingen der Decadence ver¬
kehren. Diese sind eben heute der eigentliche Hort dessen,
was man im Auslande als moderne wienerische Kunst zu be¬
zeichnen pflegt, — Jung-Oesterreich. Wien heisst der geistige
Nährboden dieser Poeten, denen ein gütiges Geschick das
süsse Vorstadtmädel schon in die Wiege gelegt hat, und die
so genügsam sind, dass sie mit ein paar Wiener Stimmungen
ihr ganzes Leben auszukommen hoffen.
Die moderne Bewegung, die vor einem Jahrzehnt vom
Norden ausging, hat hier nur rein technische Veränderungen
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