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1. BanphletsOffrintS
seinen heinisierenden Eingangsversen so gut zu charak¬
terisieren weiß:
„Also spielen wir Theater,
Spielen uns're eig'nen Stücke,
Frühgereift und zart und traurig,
Die Komödie uns’rer Seele,
Uns’res Fühlens Heut und Gestern,
Böser Dinge hübsche Formel,
Glatte Worte, bunte Bilder,
Halbes, heimliches Empfinden,
Agonien, Episoden
Schnitzlers „Anatol“ trägt seine Kritik in sich
selbst. Es ist ein Buch des Uebergangs, wie man es
schreibt, um sich völlig von Anschauungen zu lösen,
die man innerlich bereits überwunden hat. Nichts
falscher, als im Helden etwa ein Selbstportrait des
Dichters zu sehen. Daß er mehr zu sagen hat, als in
diesen niedlichen Blüten steckt, bewies er durch sein
erstes großes Werk, das künstlerisch bisher sein reifstes
geblieben ist, durch die „Liebelei“
Jetzt nimmt das süße Mädel selbst die führende
Stellung. Wenn sich Schnitzler vordem nur mit der
Ospcholoaie des vornehmen Müßiggängers beschäftigt
hatte, so reizt es ihn jetzt, die Kehrseite der Medaille
zu untersuchen. Wie gestaltet sich eine solche Episode
aus dem Liebesleben eines jungen Mannes, wenn seine
Liebe zufällig ein wirkliches Weib trifft, einen wahren
Menschen, der außer der sinnlichen Neigung auch das
sittliche Gesetz der Liebe in sich trägt. Und solch ein
Weib ist Christine.
Die moderne Doesie sucht das Tragische nicht in
den großen Wechselfällen des Lebens. Sie findet es
durchaus im individuellen menschlichen Erleben. Unserer
Anschauung nach hat auch der schwerste Schicksalsschlag
nichts von innerer Tragik, solange nicht die sittliche
Würde im Menschen beleidigt wird, solange der Nern
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seines Wesens nicht angetastet oder gar vernichtet wird.
Es liegt also nichts Tragisches darin, daß ein Mann
seine Geliebte verläßt, um eine andere zu heiraten (und
unsere Dichter sollten sich das gesagt sein lassen!). Nichts
Tragisches darin, daß eine Frau, die ihrer Natur nach
zur Dirne geschaffen ist, den Mann betrügt (und wieder
sollten unsere Dichter aufhorchen). Alles das ist allein
traurig für den Betroffenen, dem wir unser Mitleid
nicht versagen werden, aber in höherem Sinne geht es
uns nichts an. Solche Prüfungen sind nur eine Auf¬
forderung der Natur, die Unzerstörbarkeit des Charakters
zu behaupten. Das Tragische kann allein in einer letzten
und höchsten Unwahrheit der Empfindungen liegen, die
natürlich mit der Aufrichtigkeit der rein sinnlichen
Neigung nichts gemein hat. So also einer der Liebenden
nicht mit derselben restlosen Hingebung, dem gleichen
Opfermut antwortet, der ihm entgegengebracht wird.
So er, für seine „Dersönlichkeit“ besorgt, etwas für sich
behält. So er nicht rein dasteht vor dem eigenen Richter.
Es liegt in der Natur des Weibes, unter dieser Lüge
stärker und dauernder zu leiden als der Mann, der
solche tragischen Zufälle nur als einen kostspieligen
Irrtum des Herzens empfindet, denn für sie hängt von
diesem Erlebnis die Entscheidung ab, ob sie das Dasein
selbst, das ihr die Liebe erst in seiner ganzen Fülle er¬
schlossen hat, als Wahrheit oder als Trugbild empfinden
muß. Hingegen der Mann eben nur Mann zu sein
braucht, um als Sieger aus solchen Kämpfen hervor¬
zugehen.
Die „Liebelei“ steht am Ausgange der langen Reihe
bürgerlicher Dramen, die Lessing vorausnimmt, Schiller
mit ,Kabale und Liebe“ eigentlich begründet, Hebbel in
seiner „Maria Magdalene“ auf die eigene Sphäre be¬
schränkt. Ehedem nämlich ergiebt sich der Konflikt
aus dem Selbstgefühl des Kastengeistes, der eine Heirat
zwischen dem Adel und Bürgertum als schmachvoll
empfindet. Dieser Konflikt entsprach durchaus dem
Empfinden der „Aufklärungszeit“, für uns ist er hin¬