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amphlets, Offprints
wirksam improvisierte Schaudermärchen, Rodomontaden,
Tageskarrikaturen einem erlesenen Parterre von Baronen
und Marquisen den angenehmen Ritzel bereitet, unter
dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen. Und
wie sich draußen an dem entscheidenden Abend die
Massen zu einem blutigen Spiele rüsten, zu einem
riesigen Totentanz, in dem unerhörte Opfer fallen sollten,
da beginnt hier das Leben über das Schauspiel zu
triumphieren, dem Komödianten vergleichbar, der aus
der Nachahmung der Leidenschaft das echte Gefühl von
Haß und Empörung in sich erzeugt. Ganz der
romantischen Denkweise gehorchend, stellt unser Dichter
ein buntbewegtes Leben dar, wie es sich aus einem
Spiele entwickelt. Diese Bande hat einen Schauspieler,
der so oft und so glänzend den Taschendieb dargestellt
hat, daß er darüber zum schlechten Stehler wurde. Hat
einen Neuling, der zu morden versteht, aber nicht durch
die Erzählung seiner Tat zu erschüttern. Und es bildet
den eigensten Reiz dieser Groteske, daß Ernst und Spiel so
seltsam durcheinanderfließen. „Alle scheinbaren Unter¬
schiede sind sozusagen aufgehoben. Wirklichkeit geht in
Spiel über
Spiel in Wieklichkeit.“ Und eben darin
spiegelt sich die wilde Brandung einer Zeit wieder, die,
mächtiger als die Individuen, ein ganzes Dolk mit Ver¬
wirrung, Taumel und Trunkenheit erfüllt; bis sich hier
das verwirrende Spiel von Schein und Sein in einem
gewaltigen Finale auflöst. Die Wirklichkeit, die vordem
nur hier und da durchblitzte, tritt dem Spiele auf den
Nacken. Wirklich ermordet der Schauspieler Henri seinen
Rivalen, dem er eben noch im wohlgespielten Scherze
gedroht hat, und die Revolution kann beginnen.
Man hat Schnitzler vorgeworfen, seine Gestalten
feien Wiener, nicht Franzosen. Moderne Menschen, nicht
Zeitgenossen der Revolution. Dem einzigen Dramatiker
der französischen Revolution, Georg Büchner, hat man
ähnlich entgegnet. Es erscheint kaum nötig, dies zu
entkräften. Der Dichter ist natürlich außer stande, ob¬
jektiv das Seelenleben einer vergangenen Epoche zu
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schildern, außer stande, sich seiner eigenen Nationalität
zu entledigen. Nur gibt es Zeiten, die sich den Menschen
und Zuständen, die er schildern will, am besten an¬
schmiegen; erst der Rahmen macht das Bild ganz glaub¬
haft und überzeugend.
Aus einer ähnlichen Anschauung geboren, sind die
„Tebendigen Stunden“, wieder ganz wienerisch.
Manches will mir, selbst für eine dramatische Skizze, zu
schwach und farblos erscheinen. So die „Lebendigen
Stunden“ selbst, die das Thema für die folgenden Szenen
aufstellen. Es sind Dariationen über das Verhältnis
zwischen Leben und Kunst. „Was ist denn deine ganze
Schreiberei“ heißt es im ersten Satze dieser Spmphonie;
„und wenn Du das größte Genie bist, was ist sie denn
gegen so eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in der
Deine Mutter hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und
zu uns geredet hat, oder auch geschwiegen, — aber da
ist sie gewesen — dal und sie hat gelebt, gelebt!“ Solche
Töne der Derachtung gegen alles, was Literatur heißt,
lassen sich in der modernen Dichtung nicht selten ver¬
nehmen. Erschütternd in den letzten Dramen Ibsens.
„Ist's denn nicht unvergleichlich wertvoller“ meint der
Bildhauer Rubek, „ein Leben in Sonnenschein und
Schönheit zu führen, als sich bis ans Ende seiner Tage
in einer naßkalten Höhle mit Thonklumpen und Stein¬
blöcken zu Tode zu plagen?“ Offenbar entspringt dieser
künstlerische Skeptizismus der Tatsache, daß die moderne
Dichtung bisher nieht imstande war, die Fülle des neu
Geschauten und Empfundenen in eine entsprechende
Form zu bannen.
In allen vier Dramen des Cyklus klingt der Drotest
gegen das Literatentum durch, dessen einfältigen Kunst¬
übungen das Leben mit seinen wahrhaft tragischen, unendlich
tieferen Accenten gegenübergestellt wird. Die Tendenz
ist allzu offensichtlich und nur bei der höchst gelungenen
Satire „Literatur“ berechtigt, als welche das literarische
Gigerltum (auch Uebermenschentum genannt) unserer Lage
lustigpersifl iert. Nur „Die letzten Masken“ dürfen einen