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1. Panphlets offorints
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erstenmal ein Motiv angeschlagen, das für Schnitzler so charakteristisch
ist und uns noch öfter begegnen wird: das Spielmotiv.
„Der blinde Geronimo und sein Bruder“ ist eine der tiefsten
Novellen Schnitzlers und hat von den Eigenarten des Verfassers —
merkwürdig genug — wenig an sich. Als Knabe wurde Geronimo
von seinem Bruder Carlo mit dem Bolzen ins Auge getroffen und
büßte nach Jahresfrist die Sehkraft vollständig ein. Carlo nahm
ein Leben der Buße auf sich und durch zwanzig Jahre begleitete er
seinen blinden Bruder, der seinen Unterhalt durch Singen und Gitarre¬
spielen erwarb. Es ist ein trauriges Leben für den Vollsinnigen,
zumal Geronimo im Trunk das ihm widerfahrene Mißgeschick zu ver¬
gessen sucht. Einmal schenkt ein Fremder dem Carlo ein Geldstück,
sagt dann dem Blinden, es sei ein 20=Frankstück gewesen, und gibt
diesem den Rat, sich von seinem Bruder nicht betrügen zu lassen.
Geronimo fordert nun von seinem Bruder das Goldstück, und da es ihm
dieser nicht geben kann, weil er es nicht erhielt, so nennt er ihn einen
Dieb. Carlo ist auf das Tiefste getroffen. Er sieht eine Kluft
zwischen sich und dem Bruder, durch Mißtrauen entstanden, die nicht
zu überbrücken ist. In seiner Verzweiflung stiehlt er im Gasthof
einem Fremden, der dort übernachtet, ein Goldstück. Am frühen
Morgen zieht er mit seinem Bruder fort. Am Wege gibt er Geronimo
die Münze und sucht ihm einzureden, er habe sie nur aufbewahren
wollen, damit Geronimo sie nicht vertrinke. Aber auch dadurch wird
das Mißtrauen des Blinden nicht beseitigt. Dem Paar kommt ein
Gendarm entgegen und nimmt die beiden mit, da er sie des Dieb¬
stahls, der inzwischen entdeckt wurde, für verdächtig hält. Carlo
glaubt sich verloren, denn sein Bruder muß ihn jetzt mit vollem Recht
für einen Dieb halten. Nun kommt aber das Wunderbare. Geronimo
bleibt plötzlich stehen, läßt seine Gitarre fallen und küßt den Bruder.
Der Gendarm ist über diese Szene erstaunt, aber Carlo versteht.
„Er schlug einen viel rascheren Schritt ein als früher. Das Lächeln
wollte von seinem Antlitz nicht verschwinden. Ihm war, als könnte
ihm jetzt nichts Schlimmes mehr geschehen, — weder vor Gericht,
noch sonst irgendwo auf der Welt. — Er hatte seinen Bruder wieder
nein, er hatte ihn zum erstenmal . . .“
„Exzentrik“ ist eine weniger bedeutende Humoreske, in der ein
Freund dem andern rät, nie mit einer Exzentrik=Sängerin etwas
anzufangen. Auch „Exzentrik“ zeigt einen leisen Anklang an Anatol.

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III.
„Der Weg ins Freie“ ist in erster Linie
roman. Der Dichter und der Mensch Schnitzler rei
Hände und die Vereinigung von Leben und Scha
lerischem und menschlichem Empfinden ist eine voll
Weg ins Freie“ ist auch ein Wiener Roman. Ich
behaupten, daß Schnitzler mit diesem Werk den Wie
wollte und weiß daher auch nicht, warum von man
Werk gerade unter diesem Gesichtspunkte betrachtet n
ist ein Wiener Dichter, der seine Menschen aus der
herausholt. Das ist auch in diesem Roman, der in
spielt, der Fall, wenngleich es dem Dichter hier auf G
als auf einen bloßen Milieuroman. Darum kann
sagen, daß „der Weg ins Freie“ der Wiener Ghetto
abgesehen davor, daß der Held Georg von Wergenth
liebte Anna keine Juden sind, spielt doch der Roman
die dem Ghetto fernstehen. Schnitzler wollte in diese
Problem des Judentums als Bestandteil Österreichs
des modernen Europas rühren. Er kommt aber in
objektiv nicht weiter, denn sie ist ihm eine ganz
Darum ist auch die Dichtung eine ganz persönliche,
der Unbefangenheit desjenigen, der ein Kunstwerk gen
treten muß, ohne Sensationsgeschrei und ohne nach
suchen. Der Grundgedanke spricht sich in dem
Rasse als solche ist natürlich widerwärtig, nur der
es zuweilen, durch persönliche Vorzüge mit den Wit
Rasse zu versöhnen.“
In diesem Roman ist besonders die ausgeze
ristik sämtlicher Personen hervorzuheben; wahrhaft
hat Schnitzler hier vor unsern Augen erstehen lassen
ist für den Dichter nur die Kette, die die Schicksal
äußerlich miteinander verbindet. Schnitzler kommt
seinen Novellen, auf Seelenschilderungen an; hier i
allem der psychische Zustand Georgs in der Zeit, da
Kind erwartet. Auch in der Zeichnung der übrigen
sich der Dichter als meisterhafter, erfahrener Psychol
den Reiz dieses Romanes, dem jedes grelle Licht un