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Panphlets offorints
Typus vor unseren Augen: der lächelnde Melancholiker Anatol. Dem schien es
am Besten, die Schönheit jedes Erlebnisses auszukosten. Und was hieß ihm
Erlebnis? Die Liebe in ihrer ungezwungensten Form; es galt, das Leben voll zu
erfassen, zu geniessen und schöne Erinnerungen heimzutragen. Keine düsteren
Gedanken! Wie ein weicher, wiegender Walzer verklingt, soll eine Liebesstunde
vergehen und eine süsse Wehmut ins Herz senken. Ist auch alles vergänglich, der
Augenblick des Glückes bleibt unverloren. Gewiß; selbst Anatol ist vom
Skeptizismus nicht frei, die Treue seiner Geliebten zweifelt er an und will an Cora
in der Hypnose die inhaltsschwere Frage an das „Schicksal“ stellen, ob sie ihm
allein angehöre; er unterläßt es und bewahrt sich die holde Illusion.
Mancherlei ist in dem Erstling enthalten, was uns den Dichter erkennen lehrt.
Der Wirklichkeitssinn war in allen seinen Zeitgenossen lebendig; doch welche
Kluft trennt dieses graziöse Werkchen beispielsweise von Hauptmanns „Vor Sonnen¬
aufgang“! Realisten sind beide; während aber der Schlesier vor allem die Wahrheit
sucht, sei es auch auf Kosten der Schönheit, will der Wiener nur die Wahrheit
sagen, wenn er es in schöner Form tun kann. Der eine wurzelt mit seinem Wesen
in einer Scholle, der jeder Ertrag mühselig abgerungen werden muß, der andere
bewegt sich auf einem Boden jahrzehntelanger Kultur und mag den Wohlstand
die stimmungsvolle Umgebung nicht missen. Stimmung! Eines jener Worte die
man nicht definiert, nur empfindet. Und sie gedeiht sicher dort am schönsten, wo
der Genius der Musik heimisch ist, wie in der Donauresidenz. Wo Luxus Bedürfnis
ist, wird man sich schon aus Gründen der Wohlerzogenheit scheuen, Gefühle
brutal zu äußern. „Die Helden“ Schnitziers sind Feinschmecker der Liebe, Fein¬
schmecker und vielleicht deshalb Skeptiker. Anatol ist der erste in einer langen
Reihe. Sein Gefährte Fritz in der „Liebelei“ ist bereits ein Grübler und kennt
keinen rechten Genuß mehr. Die Beziehungen zu einer verheirateten Frau quälen
ihn, im Zusammensein mit Christine nennt er die Liebesstunde eine Lügnerin, sein
Leben läßt er, weil ihm die Konvention das Duell gebietet, zu einer entscheidenden
Tat fehlt ihm die Kraft. Der Meister Zyprian („Paracelsus“) ist zwar Fritzens voll¬
kommenes Gegenstück, doch der Dichter rückt den Hexenkünstler Paracelsus
geflissentlich in den Vordergrund; durch ihn wird das geheimste Wünschen der
tugendsamen Ehefrau enthüllt: Sie gesteht im Halbschlaf ihre Neigung zu einem
schmucken junker.
Wieder das Fragen und Suchen nach den Regungen der Seele wie bei
Anatol. Wir entdecken bereits die zweite Komponente in Schnitzlers Schaffen:
zunächst eine heiße Sehnsucht nach dem Erlebnisse an sich („Anatol“ und „Liebelei“),
dann das Verlangen in die Psyche des geliebten Wesens einzudringen (Frage an
das Schicksal, Paracelsus). Nun beginnen Variationen beider Themen: der Mann
kann die Geliebte nicht vergessen („Blumen“), verleugnet sie (Ein Abschied, „Die
Gefährtin“); die Frau handelt ebenso („Frau des Weisen, die Toten schweigen“).
Die feine lronie Schnitzlers spürt man, wenn ein Hahnrei die Treue seiner Gattin
durch Selbstmord beweisen will („Andräas Thameyers letzter Brief“).
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