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PanphletsOffarints
Ein faustisches Element ist den Fantasiegestalten unseres Dichters eigen. Die
Erde umfassen sie mit „klammernden Organen“, die Rätsel des Seins möchten sie
ergründen. Dazu braucht er vor allem jene Reife, die das zunehmende Alter
beschert. Langsam und allmählig geraten wir nun in jene Sphäre, wo Traum und
Wachen ineinanderfließen. „Lebendige Stunden“ ein Auftakt; welche Stunden
heissen lebendig? Die, in denen ein Erlebnis sich in seinem Werte zeigt. Und die
Mission des Dichters ist es, der Wirklichkeit erhöhten Sinn zu leihen. So sagt der
junge Mann zum Freunde seiner toten Mutter und nimmt die verklärte Vision gegen
die Tatsachen in Schutz. („Lebendige Stunden“) Schnitzler ist hier sicher gleicher
Ansicht und berührt damit das allgemeine Los jedes Künstlers. Er wird von den
Menschen, die im grellen Lichte der Tatsachen wandeln, nie ganz verstanden werden,
einsam sein ist wohl seine Bestimmung. Der Schmerz darf allerdings nicht bewußt
zum Ferment eines Kunstwerkes werden; der Maler in dem Einakter „Die Frau mit dem
Dolch“ ist ein Egoist, sonst nichts. Anders steht die Sache, wenn der Schauer des
nahenden Todes die Schleier von der Seele zieht. Rademacher will seinem
Freunde Weihgast sagen, daß er der arme, Unberühmte, doch die Frau des Be¬
rühmten besessen habe. Und zum Schluße die feine Wendung. Er besinnt sich
eines Besseren: „Was hat unsereiner mit denen zu schaffen, die morgen noch leben
werden?“ Alles kleinliche versinkt vor dem Unerbittlichen, Unwiderruflichen, dem
Tode („Literatur“ ist eine köstliche Probe von der lronie unseres Dichters, — so
spottet nur einer, der sein Handwerk liebt und versteht). Rademacher resigniert
vor seinem Ende, anders der „Puppenspieler“: er glaubt die Ereignisse zu be¬
herrschen, der Wahn wird ihm nicht geraubt, doch seine nächste Umgebung weiß,
daß er selbst bloß eine Puppe ist im Marionettentheater des Lebens. Schon in die
Frühzeit des Schnitzlerischen Schaffens fällt der kühnste Versuch, Spiel und Ernst
durcheinander zu bringen; wer kennt und liebt nicht die Groteske „Der grüne
Kakadu“? Leben auf der Bühne, Leben auf den Straßen von Paris (Vor Ausbruch
der Revolution). Was ein „Irrspiel“ war, zwischen Schein und Sein — so ein
Ausdruck Alfred Kerrs — wird Wirklichkeit. Die staatliche Ordnung wankt und
ein harmloser Schauspieler wird zum Rächer seiner Gattenehre.
War es Schicksal, war es Zufall? könnte man sich hernach fragen. Unter
einem augenblicklichen Impulse handelten hier die Menschen, die Masse wider
Einzelne und das Unerwartete geschieht. Ein blindes Ungefähr läßt wohl auch den
Freiherrn von Leisenbohg sterben („Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg“)
und die Weissagung an dem Leutnant sicher erfüllen („Die Weissagung“). Ja, was
ist Zufall, was Bestimmung? Kann das der Sterbliche entscheiden? Hier schwinden
die scharfen Grenzlinien und die Ahnungen kommen zu ihrem Rechte. War es die
Bestimmung Wehwalds, für die Wünsche und Sehnsuchtsträume der Redegonda
zu büßen? Wie sonderbar, daß diese Frau alles erlebt zu haben meint, was sie
vergeblich erwünscht. In Schnitzlers Sinne hat Wehwald allerdings eine Schuld
auf sich geladen, denn er belog sich und das geliebte Weib um ein herrliches
Erlebnis („Das Tagebuch der Redegonda“), mußte Gabriel an seinem Glücke vorbei¬
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