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1. Panphletsofforints
Aber tagsüber kamen ihre Menschen schimpfend zu uns aufs Land. Sie
sagten, Wien sei eine unleidliche Bestie, und priesen immer von neuem, daß
das Land sie von der Stadt befreit habe. Kaum jedoch rann im scheidenden
Sommer der erste Regen nieder, so schlichen sie hastig und scheu zu ihr zurück.
Sie waren ja schon lange sehnsüchtig gewesen nach den weichen Gewohnheiten
und dem lasterhaften Allerhand dieser Stadt.
Sie war wie eine Stiefschwester deutscher Städte. Es war ein illegitimes
leichtfertiges Tröpflein südlichen Blutes in sie gekommen. Das Gefüge war
schon gut: alt, heimarstark und frohen Sinns. Aber es flatterte von Tand
und Unzuverlässigkeit um sie. Zigennerhaft sah es aus. Ging man durch
die Straßen, von der Augenweide an seinen alten Häusern, von dem Schweren
und Launischen seiner alten Viertel dahingelockt, so sah man ja auch den
leisen orientalischen Schimmer über dieser Stadt glitzern, sah in ihren Men¬
schen das buntere Dunkel fremd an. Die schöne illegitime Stiefschwester.
Die unzuverlässige! Sie hatte nun ihre wunderbare Stadt und pries mit
schmelzenden Lippen ihre konservative Gemütlichkeit, ihre alte Kultur und
benahm sich doch nicht so. Sie buddelte sich auf in einer parvenühaften,
modern sein wollenden Unternehmungskraft. Sie riß ihre alten Häuser ein
und setzte neue auf, und man sah nicht recht den Zwang einer Notwendigkeit.
Es schaute so aus, als unternähme sie's nur, um es den Schwestern in
Deutschland, den ernst wachsenden, legitimen Kindern Mutter Germanias
gleichzutun. O, sie verleugnete all ihren Geschmack, auf den sie so stolz war,
wie eine Pariser Verkäuferin auf den ihrigen. Man konnte in Wut kommen.
Sie besitzt ihren wunderbaren Platz „Am Hof“ mit dem so wohlig gefügten
Palast des Kriegsministeriums. Daneben kommt eine etwas enge Gasse her,
und unter dem Vorwand diese Gasse zu verbreitern, wurde beschlossen, den
ganzen alten Barockpalast abzureißen. Seid ihr denn nie des Nachts über
diesen Platz gegangen, wenn sich der Obst= und Gemüsemarkt mit nachttoll
heimlichen Farben und üppigen Bewegungen wie ein Fest zwischen diesen
alten Steingedichten feierte, in denen die Musik eines wunderbaren Geschmacks
in beruhigten Verzückungen singt? Rein, es wird abgerissen! Wien wird
diese Tat eines Halbwilden vollführen. Der Tropfen Blut arbeitet, den der
fremde Strolch, der rohe Hund, der die Schöpferin dieser Stadt ver¬
gewaltigte, in Wien ließ.
Wie ewig gewordener Schönheit dieser fatale Mangel inneren Bewußt¬
seins und äußerer Geschmackskultur zerstörend begegnet, so wendet sich das
Wien von heute, ach, ein anderes Wien als das Fischers von Erlach und
Hildebrands, mit temperamentvollen Strohfeuern gegen jeden Versuch wieder
zu schöpferischem Geschmack zu kommen. Der lächerliche Spott der Urania
hat kein Widersprüchlein aufgeblasen; die Flut von Stuckornament und
lügenhafter Historie wurde mit Wonnen empfangen. Aber die neue Eigenart
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