Faksimile

Text

——
box 36/7
1. Panphlets offprints
102
Friedrich Rosenthal, Jungwiener Novellistik.
versäumt und sich auf den billigen Standpunkt des rückschauenden Propheten ge¬
stellt. Und die heutige, wienerische bevorzugt ihren Absichten gemäß Zeiten und
Menschen, die wie im Dämmer stehen und von verborgenen Rätseln und Selt¬
samkeiten imschleiert siad, oder die Ausgeburten und dunkle Entfesselungen
seeltscher Kräfte gezeitigt haben. Roms Kaiserzeit, die Renaissance, die Epoche
der soanischen Habsburger.
Im übrigen find die Formen die alten, überlieferten. Die Konturen des
Gefäßes ändern sich nicht, nur das Material und seine Verarbeitung und die
Linten seiner Ornamentik. Die alte Gattung der Rahmenerzählung wird
wieder modern. Die gewohnten, altbewährten Mittel, einen Einfall durch die
Art seiner äußeren Zubereitung interessant zu machen, werden wieder aufge¬
nommen: Die Bekenntnisform durch Erzählung, Gespräch, briefliche Mittei¬
lung, die Einkleidung von Tagebuchblättern oder die Umbüllung mit solchen
oder die übliche der objektiven Wiedergabe. Natürlich müssen diese Mittel
der Art der Erzählung angepaßt sein. So kann es geschehen, daß auch jene
antiquierten Formen, in denen der Verfasser von sich und vom „lieben Leser“
spricht, noch ihre reizvollen Möglichkeiten haben.
Hieher gehört auch ein Wort über die Titel der Sammlungen und der
einzelnen Stücke, ein Wort über die Art, in der sich das innere Wesen dieser
Nooellen abzeichnet. Ich nehme nur die der letzten fünf Jahre, also jener
Zeit, in der sich der neue Typus voll herausgebildet hat. Sie heißen: Dämmer¬
seelen, Masken und Wunder (Schnitzler). Der goldene Spiegel (Wassermann),
was natürlich ein Symbol ist. Oder sie heißen: Geheimnisland, Schäume und
Träume (Hans Müller). Erstes Erlebnis (Stefan Zweig), Tagwandler (Tre¬
bitsch), Die Wege des Herrn (Salten), die bekanntlich dunkel sind, Erlebnisse
eines Wanderers (Langmann). Ist nicht schon in den Titeln das Sucherische,
Aufspürende der ganzen Gattung betont? Ist nicht die tiefe Ehrfurcht und
der leise Schauer vor den Geheimnissen der Natur und der Größe des Lebens,
wovon wir umsponnen sind, damit enthüllt? Eine Ehrfurcht, die sich manch¬
mal mit einem ironischen Hinweglachen und einer heiter refignierenden Geste
betäubt. Könnte man nicht wie als Motto über diese ganze Produktion
Wassermanns Worte aus dem goldenen Spiegel setzen?: „Ist nicht jede
Stunde ein Erleben besonderer Art? Alles, was das Auge hält, der Gedanke
berührt, Sehnsucht und Liebe, Wolke und Wind, Bild und Gesicht. Schlimm,
wenn ein Poet in der Luft hängt und sein Geschaffenes zur schönen Figur
erstarrt". Und darum ist in diesen Novellen der Einfall von einer solchen
phantastischen Ungebundenheit und Vielfachheit wie kaum je zuvor in der
Literatur. Aber das Wertoolle ist, daß das unmöglich Scheinende immer
irgendwie realisiert und in einen Brennpunkt gebracht wird oder daß es eine
Wirklichkeit gibt, der man Sinn und Bedeutung des Wunderbaren unter¬
schieben kann.
So lebt der Künstler das Leben zu Ende, das dem Alltagsmenschen und
dem Dilettanten halb verschlossen bleibt. Wenn erst durch Wunder und Ver¬
wonderung das tiefere Leven der Seele entsteht und zur Beglückung oder
zum Verbrechen, zum Tod oder zum höchsten Dasein führen kann, so ist es
das Werk des Dichters, der dies alles als prophetischer Träumer erlebt, der
aufschlußreiche Erzieher des Unwissenden zu sein. Wenn durch das überzeu¬
gende Beispiel das gläubige Gefühl in ihnen lebendig wird, daß alles, was
sie tun und treiben, eine weitreichende Verantwortung besitzt, daß wir stets
wissen, wo wir sind, aber niemals, wohin wir treiben, und wenn damit auch
im Massenmenschen der Sinn einer höheren Ordnung sichtbar geweckt wird,
so hat der Dichter eine Mission erfüllt, die wahrhaft priesterlich ist. Von
diesem Standpunkt wächst das, was heute noch vielfach wie Unterhaltungs¬
literatur ausfieht und dafür angesehen wird, zur moralischen Höhe eines „
ewigen Kunstwerkes.