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1. Panphlets, offprints box 36/7
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Friedrich Rosenthal, Jungwiener Rooellistik.
und vielleicht auch insgeheim gesprochen, die damals starben oder zu ihrem
letzten Lebensabschnitt gelangten, als die neue Zeit kam. Bauernfeld ging
damals dahi, Ortüparzer, Anastafius Grün, Nestroy waren lange schon tot.
Ferdinand von Soar trat ins Greisenalter. Das Neue aber kam mit Riesen¬
schruten.
Es kündigte sich schan rein äußerlich mahnend und aufzeigend an. Die
Beränderung des alten Stadtbildes, das seinen liebenswürdig altoäterischen,
lebensbehaglichen Charakter verlor, war das erste bochaufgesteckte Zeichen des
Kommenden. Vorbei war es mit den engen, verträumten romantiichen Gassen
und den winkeligen, dunkeln schmaltreppigen Häusern. Nicht mehr der Schön¬
heit, die sich in letzte verstreute Bollwerke und in unnahbare Vorstadtwinkel
flüchtete, dem Zweck ward geopfert. Ihm emtstanden brette, kalte, vom haßtenden
Leben durchsurchie St aßen, nüchterne, massive, unpersönlich bequ me Riesen¬
häuser und Paläste, darin neue Menschen aufwachsen und wohnen mußten,
die ganz in ihrer Zeit lebten und das sentimentale Bedauern und Wehblagen
über versunkene Schönheiten nicht kennen durften. Es entstand dieses und jenes
Nützliche und Mechanische, Arbeitfördernde und Goldspeiende, das aufzuzählen
natürlich ganz überflüssig wäre, da wir ja damit groß geworden sind und es
täglich wieder und wieder erleben. Bis in die Wiener Landschaft hinein, die
ihr bukolisches, lieblich naioes Gepräge ebenfalls verlor und ihre bunten, ewig
jungen Reize und ihre linde wehende Luft in den Dienst des eroberungs¬
süchttgen, ausdehnungsbedürftigen Großstädters stellen mußte. Dafür wurde sie
jetzt neu und in einem anderen Sinne entdeckt. Sie verlor ihre Unschuld und
ihre Primitioität ihre Entferntheit und ihre demgemätze Unberührtheit und be¬
kam bequemen Anschluß an die große Stadt, an ihr Wollen und Volldringen,
an ihre jagenden und gterigen Menschen, die sie nun dampfend, vom Tagwerk
müde und ruhebedürftig empfing. In den Kreis dieser Lieblichkeit waren nun
geistige und gesellschaftliche Interessen gerückt, denen sie einen stimmungs¬
fördeinden, der Nüchternheit und dem Alltag entrückenden Rahmen bot.
Zu Stadt und Umgebung kamen die neuen Menschen, wie sie die ge¬
wandelten Verhältnisse notwendig schufen. Soziale und gesellschaftliche Schichten
bilden sich und davon abfärbend eigentümliche Menschlichkeiten, in ihren Be¬
strebungen und Versuchen, in ihren Neigungen und Bedürfnissen so neu und
irgend wie schon äußerlich den geänderten Typus der Großstadibewohner an¬
kündigend. Natürlich stehen die Frauen, die einer Wandlung ihrer Lebensbe¬
dingungen und Verheißungen am meisten und auch äußerlich erkennbar erliegen,
im Mittelpunkt und das natve, ahnungslose Vorstadikind wird, schon irgend¬
wie von den Geheimnissen und Lockungen des Lebens umwittert, zum vielge¬
nannten, vielbegehrten, fast weltberühmten „süßen Mädel“, die intellektuelle
Tochter einer reichen, umworbenen, genießerischen Bourgeoisie zur mondainen,
sellsam komplizierten, vieldeutigen und vielwissenden Frau, die ihrem Geschlechte
neben den Wünschen der einzelnen die Rechte der Gesamtheit erkämpfen möchte.
Wie in Berlin 1790 oder um 1800 gibt es eine Gesellschaft von seltsamer
Zusammensetzung, vielfach geknüpften Beziehungen und manigfachen Interessen,
was für die Kunst und zumal für die Lueratur nicht unwesentlich ist. Sie