Faksimile

Text

2. Cuttings box 37/2

Dt.
zur
Nr. 17a.
S
Die Welt ist eine große Seele,
Und jede Seele eine Welt;
Das Auge ist der lichte Spiegel,
Der beider Bild vereinigt hält.
E. Rittershaus.
„Jung=Wien.“
Studienblätter von Theodor v. Sosnosky.
(Nachdruck verboten.]
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hat Berlin in
der deutschen Literatur eine führende Rolle gespielt. Die
anderen deutschen Großstädte konnten sich literarisch neben
Berlin kaum bemerkbar machen, nur München ist dies, aller¬
dings in sehr bescheidenem Maße, geglückt, ohne daß es der
Hegemonie Berlins aber auch nur entfernt Abbruch zu thun
vermochte. Wien kam für die deutsche Literatur so gut wie
garnicht in Betracht.
Dieses krasse Mißverhältniß der beiden Kaiserstädte in
ihren Beziehungen zur Literatur bestand noch in den neunziger
Jahren. — Da, gegen Ende des Jahrhunderts, tauchte der
Name „Wien“ in der Literatur wieder auf. Auge und Ohr stießen
da und dort auf ihn; immer häufiger zeigte er sich, immer
größer wuchs er heran, immer vernehmlicher wurde seine
Stimme; schließlich eroberte er sich in der Literatur einen
Platz, der, zwar immer noch bedeutend geringer als der
Berlins, doch selbst dem arg kurzsichtigen großen Publikum er¬
kennbar ist und darum ernstlich in Betracht kommt.
Das unleugbare Verdienst, den Namen Wien in der
Literatur nach so langer Zeit wieder zur Geltung gebracht
zu haben, gebührt wohl unbestritten Hermann Bahr.
Es mag ja sein, daß dieser Umschwung auch ohne ihn
eingetreten wäre, es ist sogar wahrscheinlich; aber jedenfalls
hätte es noch ein Weilchen gedauert, bis es geschehen wäre.
Jedenfalls ist Bahr es gewesen, der die Aufmerksamkeit des
Publikums wieder auf Wien gelenkt hat; wie er dies gethan,
ist eine andere Sache; aber mag man dagegen noch so viel
einwenden, sein Verdienst um das literarische Wiederaufleben
Wiens kann dadurch nicht aus der Welt geschafft werden. —
Mit dem „Wie“ freilich kann man sich durchaus nicht ein¬
verstanden erklären, denn die Art seines Vorgehens war und
ist nichts weniger als löblich und nachahmenswerth. Nicht
durch hohe Kunstleistungen, nicht durch überzeugende Geistes¬
werke hat er die Aufmerksamkeit auf sich und damit auf Wien
gelenkt, nicht die Erkenntniß, daß in ihm eine bedeutende lite¬
rarische Persönlichkeit verkörpert sei, hat das Publikum veran¬
laßt, von ihm Notiz zu nehmen, sich mit ihm zu beschäftigen:
nein er hat es nur besser verstanden, Reklame zu
machen, als seine zahlreichen Konkurrenten seine Stimme,
mit der er seinen Namen unaufhörlich in die Welt
rief, ist eben stärker, und seine Hand, die die Reklame¬
trommel rührte, darin geschickter und unermüdlicher
gewesen. Die sattsam bekannte Theilnahmslosigkeit des deut¬
schen Publikums konnte ihn nicht irre machen, nicht abschrecken:
gelang es ihm nicht, dessen Aufmerksamkeit in der einen Rolle
auhorge
Kordbeutschen
ten
Berlin, Sonntag den 20. Jannar
S
Symbolistik, daß dieser radikalste Stürmer und Drän¬
Literatur jene Stellung zu e
dereinst in
der Redaktionsstube des „Neuen
dazu haben dagegen seine
Wiener Tagblatts“ sitzen werde, in der der äußerste
leugbar geschickt gemacht un
Konservatismus im Künstlerischen Hausgesetz ist: wer hätte das
denen jener ungenirte bursch
gedacht!? Man wird vielleicht sagen, der Bahr vom Jahre
zige echte Eigenart Bahrs i
1900 sei eben ein ganz Anderer als der von 1890 oder sogar
Wic schon im Roman „The¬
als der von 1896, er habe sich in diesen zehn Jahren, weiß
spielen „Tschaperl“ und
Gott wie oft, gehäutet. Das ist aber doch nicht so richtig, als es
Persönlichkeiten auf die Szen
scheint: Man hat sich daran gewöhnt, in Bahr einen literarischen
wirken, da das Publikum derl
Proteus zu sehen, der eine Kunstrichtung nach der andern
kanntlich zu lieben pflegt. Rec
„überwindet“, um diesen durch ihn zum geflügelten Worte ge¬
süchtiges Apartseinwollen ist
wordenen Ausdruck zu gebrauchen; es ist ja auch ganz mog¬
zum Pantoffelhelden, vom
lich, daß er in einigen Jahren, vielleicht schon im
Napoleon in seinem Stücke
nächsten, wieder ein Anderer zu sein scheint als heute;
de alle Welt, Freund und F
aber auch nur zu sein scheint. Darin liegt es! Im
einen großen Mann sieht, ha
Grunde ist er nämlich doch immer derselbe: ein Mann,
als lächerliche Null hinzu
der eine feine Witterung hat,
aus welcher Rich¬
als andere Leute. Nun, der
tung der nächste Wind wehen wird, und der sein
wird diese à tout prix-Opposi
Mäntelchen daher früher nach ihm drehen kann als andere
zu glauben, hieße Bahrs Bed
Leute, was ihm den Nimbus des Bahnbrechers verleiht; er
hat Napoleon eben klein
ist immer derselbe kluge Menschenkenner, der weiß, daß in
schon nicht groß, so doch inte
unserer raschlebigen, sensationslüsternen Zeit nur Der interessant
Bahrs Bedeutung liegt üb
bleibt, der immer für Abwechslung sorgt, der immer einen
lerischen Thätigkeit, sonder
neuen Trick in seinem Programm hat, mit dem er die nach¬
Mit allen seinen Erzählu
lassende Theilnahme des Publikums aufs Neue anregt. Mag
bühnenwirksamen Stücken w
er was immer für eine Pose oder Gestalt annnehmen, was
so viel von sich reden zu mac
ihn dazu bewegt, ist doch immer dasselbe: Originalitäts= und
Theater, Literatur, Malerei
Sensationssucht. Damit soll aber nicht etwa gesagt werden,
Gebiete nimmt er thatsächlich
daß jede dieser Posen und Metamorphosen lediglich kühle
Stellung ein. Er ist es, der
Berechnung und Komödie sei. Das dürfte zwar die Ansicht
Literatur eingeführt hat; ihr
der Gegner Bahrs sein, deren Zahl vermuthlich nicht
Verdienst, für jene Mode Pro
klein ist, aber man thäte ihm damit doch wohl Unrecht. Das
Name gedankenlos von aller We
„épater les bourgeois“ ist ihm eine Art Bedürfniß, der
nämlich; er ist es schließlich,
Trieb dazu entspringt seiner Originalitätssucht; die Sucht nach
damit die Aufmerksamkeit auf
Neuem liegt in seiner Natur, das von ihm zitirte Wort Henri
arg vernachlässigte Kaiserstadt
Lavedans paßt auch auf ihn: „ .. il n’est qu'une chose,
Wien“, das ist nämlich die in
aue je préfère à la beauté, c’est le changement.“ Der
Bezeichnung für die Gruppe
Wechsel ist ihm Bedürfniß, und so nimmt er bald diese, bald
die Bahr „entdeckt“ hat oder die
jene Farbe an. Daß er sich trotz aller Wandlungen im
tung, der „Moderne“ angehö
Grunde gleich geblieben ist, das zeigt sich in der Konsequenz,
doch Leute, die er dafür hielt
mit der er von seinem ersten Auftreten an bis heute stets für
zu halten ihm gerade Spa
das Ungewöhnliche, Mystische, Bizarre eingetreten ist.
wenigstens ein Sport von
Max Nordau sieht in Bahr ein Prachtexemplar eines
ebensoviel nützte wie seinen
Entarteten, ein wahres Paradigma, an dem sich alle für
Namen und Vorzüge mit so
die Entartung typischen Merkmale nachweisen lassen. Wenn
er gebärdete sich dabei so au
die übergroße Emotivität, der Hang zum Mystizismus und die
mehr Aufmerksamkeit zuwende
Sucht, von sich reden zu machen, wirklich Zeichen der Ent¬
Namen früher merkte als di
artung sind, dann muß Bahr allerdings an ihr leiden, denn
Andere entdeckte, entdeckte das
alle diese Eigenschaften besitzt er in hohem Grade. Was
Nordau in seinem Urtheil ganz besonders bestärkt haben dürfte,
Ist Bahr auch der Fü
ist der Umstand, daß er nur den Bahr von 1890 kannte und
Wien“
ist er darum do
ihn bloß oder doch vor Allem nach seiner Künstlergeschichte
Persönlichkeit; er ist nur d
„Die gute Schule“ beurtheilte. Dieses Buch aber mit seinem
deren wahrer „Star“ aber i
symbolistischen Wahnwitz, seinen unerhörten stilistischen Ungeheuer¬
um es gleich zu sagen
lichkeiten war ganz dazu geschaffen, als die Aus= und Mißgeburt
wahrhaft bedeutende Autor de
eines entarteten Gehirns angesehen zu werden; ein solches Buch I mit Goethe zu sprechen, rein I