Faksimile

Text


box 37/3
2. Guttings
— —
— 4

S
Das literarische Jung=Wien.
Von Prof. Richard M. Meyer=Berlin.
C
iele Städte dürfen von sich behaupten,
samem Rhythmus des Gefühls vereint, ohne
O daß sie ihre eigene Geschichte besitzen;
sie im Tiefsten aufzurütteln, doch freilich
einer eigenen Kunstgeschichte können sich nicht
nicht ohne sie sinnlich lebhaft zu erregen.
wenige rühmen; aber Wien ist außer Paris
Eine Kunst, die die älteste Zeit der Poesie
wohl die einzige Stadt, die eine eigene be= zu erneuern scheint, in der noch Dichtung,
deutsame Literaturgeschichte besitzt. Es ist Tanz und Musik untrennbar vereint waren;
nicht nur der lokale Ausschnitt allgemeinerer
eine Kunst, die sich nicht an den Einzelnen
literarischer Bewegungen, wie das im wesent¬
wendet, sondern an eine zum Genuß ver¬
lichen für Berlin oder ganz für London gilt;
sammelte Menge, und die von dieser ein ge¬
wisses nicht ganz geringes Maß von Ver¬
es ist auch nicht eine „bodenständige“ aber
auch nur für die engere Heimat wichtige
ständnis voraussetzt, nicht mehr aber, als
Literatur wie etwa die von Venedig oder
eben allen Kreisen der Gesellschaft zugemutet
mancher deutschen Provinzialstadt. Nein:
werden kann: den oberflächlicher gebildeten
zu dieser Literaturgeschichte gehören die be¬
Abügen wie dem in seinem Beruf auf¬
deutendsten Minnesinger und vielleicht die
gehenden Beamten, dem Gelehrten wie dem
wichtigsten Mitarbeiter am „Nibelungen¬
Mann aus dem Volk! Eine Kunst, die
lied“, gehören Grillparzer und Raimund,
zwischen Künstler und Publikum eine grö¬
Anzengruber, Schnitzler, Hofmannsthal; und
ßere Gleichartigkeit fordert und schafft, als
von diesen allen, von Reinmar dem Alten
die strengere etwa der in Wien ange¬
oder Walter von der Vogelweide so gut
siedelten Nichtösterreicher Beethoven oder
wie von dem Dichter der „Ahnfrau“ oder
Hebbel; und die nicht so viel verschiedene
dem der „Liebelei“ darf man sagen, daß
„Kreise“ der Genießenden unterscheiden läßt,
Wien für ihre Kunst bestimmend geworden ist.
wie die „Bildungspoesie“ hier, die grobe
„Vollsliteratur“ dort eim wehemt-M##d
Mancherlei hat dazu geholfen, der schönen
deutschland Goethes — und Claurens over¬
Donaustadt diese ruhmvolle Stellung zu
Zschokkes.
sichern. Keine zweite Residenz hat in so
In der Tat ist mit diesem Gleichnis wohl
ununterbrochener Folge fast ein Jahrtausend
das Wesentliche in der Eigenart wienerischer
lang vornehme, kunstfreudige Fürsten be¬
Kunst ausgesprochen: das vor allem, daß sie
herbergt, keine so mannigfaltige natürliche
einen durchaus gesellschaftlichen Charakter
Einflüsse auf der Grundlage hoher natio¬
trägt. Der einsame Dichter, der nur Aug'
naler Eigenart empfunden. Die nahen Be¬
in Auge mit dem Umgebenden verkehrt, ein
rührungen der Habsburger zu Spanien spürt
man bei Franz Grillparzer und Friedrich Leopardi etwa oder auch ein Hölderlin, der
Halm und bei beiden auch die nahen Be= gehört in diese Überlieferung nicht; aber auch
ziehungen fremder Elemente (der Tschechen, nicht der, der zu einem ganzen Volke spricht,
wie Schiller oder Victor Hugo — so nah
der Ungarn) mit den Deutschen. Die ita¬
auch Anzengruber oder Raimund diesem Ziel
lienische Oper und überhaupt die italienische
Musik hat unter dem Schutz eines so reichen manchmal zu kommen scheinen.
Wir wollen damit den Streit nicht er¬
Adels wie ihn in diesem Verhältnis nicht
neuern, ob Schiller mit Recht Wien die Stadt
einmal London besitzt, auf Raimund wirken
der Phäaken, Grillparzer sie mit Fug das
können, das Bauerntum, das keiner andern
Capua der Geister genannt habe. Nicht jede
Großstadt so nahe auf die Haut rückt auf
Anzengruber. Politische Verhältnisse schufen Geselligkeit ist Verweichlichung; und gerade
dazu eine lange, sehr lange Isolierung; von dem theaterfreudigen und tanzfrohen Völk¬
chen an der schönen blauen Donau darf man
der stürmischen Entwicklung des nördlichen
nicht nachsagen: „Dieses Volk kann sich nicht
und mittleren Deutschland abgetrennt, blieb
anders freuen als bei Tisch!“ Aber es ist
Wien in seiner engeren Tradition befangen,
damit ein bestimmtes und bestimmendes
als Hamburg, Weimar, Berlin, München in
Element der wienerischen Kunst und vor
neue Bahnen der Kunst schritten. Das meiste
allem auch der wienerischen Literatur ge¬
schließlich wird wohl Anlage sein: eine an¬
geben, das ebenso notwendig bestimmte
geborene Neigung, sich im Eigenen zu ge¬
Formen und Arten der Poesie begünstigt.
fallen und auch wenn man es schilt, es doch
wie es andere hemmt und unterdrückt. Grill¬
dem vielleicht besseren Fremden vorzuziehen.
parzer, der viel von dem „Einsamen“ hatte,
Für diese wienerische Eigenart hat man
vermochte sich doch in den Monologen der
oft den Wiener Walzer als Symbol ge¬
Lyrik nicht so frei und mächtig auszusprechen,
nannt: heitere, liebenswürdige Kunst, die
die Menschen zusammenführt und in gemein= als wenn er aus dem Mund seiner Theater¬
——
Das literarische Jung=Wie
Gestalten al
figuren in bewegtem Dialog oder lebhaften
dazu, sie
Ensembleszenen sprach; und die Neuesten,
zuführen.
wenn sie sich in aristokratischer Distanz von
als er zu fo
den „Vielzuvielen“ entfernt halten möchten,
dem er gest
verfallen nur zu leicht der zu eben diesen
parzer zu 9
herüberschielenden Pose.
sehen.
In diese alte Tradition einer gesellschaft¬
Oder n
lichen, in bestimmten harmonischen Schranken
gattung wi
sich äußernden, Musik und rhythmische Be¬
ton. Sein
wegung mit dem leicht, aber selten originell
auch ein F#
gebrauchten Wort vereinigenden Kunst haben
letzten vor
nun aber die letzten Jahrzehnte ein neues,
märz der 2
aber auch gefährliches Ferment gebracht.
bleiben:
Nicht nur Grillparzer und Bauernfeld — auch
führten öst
Anzengruber und Kürnberger, der gestrenge
parzer, Fer
Kritiker und flotte Erzähler, gehören noch
jetzt heißen
zu Alt=Wien; aber nach Königgrätz ist eine
gern Otto
neue Generation aufgewachsen — Jung=Wien,
reichischen
freilich auch aber noch vie mehr wienerisch
borer ist
als jung!
aus kein fre
Man betrachte nur einmal den letzten dieser
„Raunzer“
Altwiener, den, 1833 geborenen, im vorigen
aber auch
Jahr durch eigene Hand aus dem Leben ge¬
Um ihn
schiedenen Ferdinand von Saar. (Ich rechne
Leserkreis d
ihn mit dem Linzer Bahr oder dem Brünner
sich als e
Schaukal, oder dem Pester Lothar zu den
Abonnenten
Wienern; denn die literarische Heimat allein
doziert der
ist bestimmend: Theodor Fontane aus Neu¬
von Rober
ruppin ist Berliner, und Paul de Lagarde
der Denkm
aus Berlin ist es lange nicht so sehr wie er!)
danehen #
Saar trägt noch willig den Typus der Grill¬
Grenzscheid
parzer, Bauernfeld, Raimund — natürlich
Kürnbergen
eben nur in jenen Hauptfragen, die sehr ver¬
er sich an
schiedene Individualitäten zulassen. Im
was er über
Kamin sigzt er mit wenigen Bekannten und
zu sagen hi
erzählt mit leiser Stimme, mit musikalischen
durch, um
Modulationen und eleganten Gesten eine
eignis aus
Geschichte, deren er sich eben zu erinnern
findet sich
scheint — erzählt sie fast in dem Ton, in
rei
Her
dem Grillparzer von seinem „Armen Spiel¬
in
mann“ erzählte. Der Vortragende tritt zu¬
rück, erscheint fast nur als Berichterstatter,
läßt nach Möglichkeit die Figuren selbst
sprechen — wie es der Dramatiker Grill¬
sch
parzer tat, aber nie der Dramatiker Hebbel.
Es ist eine gewisse Weichheit in dem Ton,
Zu
so gut wie
eine Art Verlorenheit; eine große Aus¬
jüdisches B
geglichenheit in der Sprache, selbst in der
ganz ge
Handlung beinah eine gesellschaftliche Wohl¬
semitischen
erzogenheit.
an der Un
Damit vergleiche man einen neueren Er¬
samtbildes
zähler von starkem Talent, den ebenfalls
#
historir“ lc
kürzlich verstorbenen J. J. David (geb. 1859).
über die „2
Das ist ein leidenschaftlich Ringender, der
so kann do
mit der Sprache kämpft, mit der Handlung,
Literaturbe
mit den eigenen Figuren, und der die Zu¬
gestammten
schauer und Zuhörer darüber schier vergißt.
mannsthal
Wiener Blut rinnt auch in seinen Adern —
Beer=Hofm
ob er gleich kein geborener Wiener ist, wie
leicht auch
auch Saar nicht. Und er hat Anteil
kleineren 2
der etwas sentimentalen und etwas
jüdische S
onischen Heimatsliebe und Heimatsfreude
gehörigen
r Alteren; er hat auch eine Vorliebe für
Neigung
#e von ihnen begünstigten Typen: den un¬
und Stim
widerstehlichen Schwerenöter, den nervösen
reichischem
Künstler. Aber er sitzt nicht mehr still im
stillen Zimmer: er hat sich mit seinen eigenen Neigung
Velhagen & Klasings Monatshefte. XXII. Jahrg. 190//1908. I.
S

Aumwinien